Frust adieu

Frust adieu

Moment mal

Frust adieu

Von Burkhard Budde

Sarah Connor in ihrem Video beim Song „Bye,Bye“.

Was tun, wenn Frust statt Lust herrscht? Wenn die Decke wegen Einsamkeit auf den Kopf fällt? Der Kragen wegen Verletzungen platzt? Das Vertrauen wegen Enttäuschungen bröckelt? Das Gefühl der Sinnlosigkeit wegen vergeblicher Liebesmüh aufs Gemüt drückt? Der Akku der Seele sich leert, obwohl man nichts tut? Und die Seele schmerzhaft knirscht, wenn man etwas tut? Die Kraft, die im Verzicht liegt, sich langsam verzehrt? Dann braucht wohl jeder frustrierte Mensch ein Ventil.

Sarah Connor, 40-jährige Popsängerin, scheint mit ihrem Song „By, Bye“, der im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, ein solches Ventil gefunden zu haben, um ihren Corona-Frust loszuwerden. Sie schildert in ihrer Single zunächst ihre Situation – ihre Trostlosigkeit („nichts zu tun“), ihr Gefühl der Sinnlosigkeit („kein’n Sinn“), ihre innere Zerrissenheit („okay, aber ne, eigentlich nicht“), ihr Genervtsein („keine Lust mehr“).

Aber dann bewegt sie sich im Liedrefrain vorsichtig fragend durchs „Vorspulen“ und „Tun, als wär alles wieder gut“ in eine Zukunft mit alten und jungen Freunden. In ihrer Wunschwelt wird wie früher „‘ne fette Party“ gefeiert – ohne Isolation und Kontaktlosigkeit. Und sie verrät ihren Lieblingstraum, „dass du mich weckst und sagst, „Es ist vorbei!“ Bye-bye, bye-bye.“

Wer hätte da nicht Verständnis, wenn ein frustrierter Mensch in eine Kristallkugel schaut, träumt, vor allem sich Luft macht, da seine Pläne durchkreuzt wurden, seine Seele unverschuldet verletzt, er zum Verzicht sowie zur Gemeinschafts- und Körperlosigkeit gezwungen wurde? Sarah Connor scheut sich nicht, Klartext zu sprechen: „Der ganze Scheiß mit dem Abstand. Ich will nur zurück nach Island. Ich will Nähe und Spaß. Und mit dir trinken aus demselben Glas.“

Wer würde jetzt jedoch nicht nachdenklich: Auch wenn heftiges Träumen erlaubt sein muss, weil Musik nicht nur ein Ventil ist, um Frust rauszulassen, sondern auch Medizin, die versucht, Frust zu überwinden. Aber kann das, was einmal war, einfach wiederholt oder wiederhergestellt werden?

Der Harfenspieler David aus dem Alten Testament hat mit seiner Musik König Saul von seiner „Schwermut“ befreit. Und noch heute bewegen und trösten seine Psalmen Menschen, die anschließend ihre Verantwortung vor Gott und ihrer Mitwelt wahrnehmen: Indem sie aus Einsicht nötigen Abstand halten, um auf Dauer Nähe zu ermöglichen. Aus Weitsicht vorsichtig sind, um eigenes und fremdes Leben zu schützen. Und indem sie aus dem Glauben heraus – da man Ängste, Verletzungen bei Gott im Gebet loswerden kann – dem Frust adieu (übersetzt „zu Gott“) sagen. Um neue frohmachende Wege gehen zu können.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe

in der Kolumne „Moment mal“ am 6.3.2021

sowie im Wolfenbütteler Schaufenster

am 7.3.2021

Innerer Stimme vertrauen

Innerer Stimme vertrauen

Moment mal

Innerer Stimme vertrauen

Von Burkhard Budde

Auf welche Stimme hören wir?

„Volkes Stimme“ – was ist das? Die öffentliche Meinung oder die veröffentlichte Meinung? Die Meinung der Nachbarin, die durch ihr Verhalten spricht? Die Meinung des alten Mannes, der mir kürzlich zurief: „Ich mach mir meinen Kopf, wie es weitergehen soll. Ich wundere mich, dass man nicht in den Griff bekommt, was nicht zu sehen ist. Aber die Natur wird es regeln!“? Oder die Meinung des Jugendlichen, der mir stolz und selbstbewusst sagte: „Sobald ich geimpft bin, nehme ich den Fuß von der Spaßbremse. Ich habe ein Recht auf mein Leben, das schon viel zu lange eingeschränkt ist.“? Und dann schwärmte er von heißen Partys und coolen Kultkneipen.

Ist Volkes Stimme wie ein Kochtopf, in dem alles Mögliche und Unmögliche mit persönlichen Zutaten brodelt, der von einem zivilisierten Deckel (noch) in Schach gehalten wird?

Viel wichtiger als die Frage nach einer Definition von „Volkes Stimme“, die wohl nie abschließend beantwortet werden kann, erscheint jedoch die Frage: Können wir uns eine eigene Meinung bilden? Und warum hören wir auf welche Stimme? Auf die von kompetenten Experten, weil sie das gefährlich Unsichtbare mit Forschung und Technik bekämpfen? Auf die von glaubwürdigen Politikern, weil sie der Sicherheit aller, der Gesundheit jedes Einzelnen und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienen? Auf die von vorbildlichen Menschen, weil sie nicht an Selbstoptimierung, nicht nur an Selbstverwirklichung denken, sondern als Geimpfte auch an Nichtgeimpfte, an ihre empathische Mitverantwortung?

Und gibt es nicht auch eine innere Stimme, die keine willkürliche Einbildung ist? Eine Frau verriet mir: „Ich weiß sehr genau, dass es Hoffnung gibt, kann aber nicht wirklich begründen, woher ich das weiß.“ Sie kann nicht auf Erfahrungen zurückgreifen, weil sie ihre schlimme Krankheit, an der sie zurzeit leidet, noch nie erlebt hat. Aber sie hört auf ihr intuitives Gefühl, das ihr keine Sicherheit, aber Gewissheit gibt. Sie hat über diese innere Stimme auch zur Stimme Gottes gefunden, indem ihr Geist sich öffnete, sie aus sich selbst heraustrat und im Gebet eins mit ihrem Schöpfer wurde. Den hat sie – ähnlich wie Jesus damals – angerufen: „Vater, dir ist doch alles möglich, lass mich wieder gesund werden, aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe“. Sie hat ihr Vertrauen an den mitleidenden Gott trotz allem nicht verloren. Und der hat ihr eine geheimnisvolle Würde in ihrem Leiden sowie Hoffnung gegen die Hoffnungslosigkeit geschenkt. Und diese Hoffnung ist für sie sogar vernünftig. Denn sonst wäre es keine Hoffnung, die sie trägt, bewegt und tröstet.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 27.2.2021

sowie im Wolfenbütteler Schaufenster am 28.2.2021

Der Neid des Beneideten

Der Neid des Beneideten

Moment mal

Der Neid des Beneideten

Von Burkhard Budde

Nicht immer muss es „Futterneid“ geben.

Wer kritisch ist, muss nicht neidisch sein. Aber der Neidische lässt häufig Selbstkritik vermissen. Geschickt versteckt sich der allgegenwärtige Neid hinter verschiedenen Gesichtern.

Fischneid zum Beispiel gibt es nicht nur unter Anglern. Ein kleiner Fisch schielt ständig zum großen Fisch. Nervös fragt er sich: Warum ist der andere Fisch größer und schöner? Warum kann er besser und schneller schwimmen? Warum ist er erfolgreicher und angesehener? Warum hat er mehr und andere Nahrung?

Der kleine Fisch trauert über die Fresserfolge des großen Fisches. Und freut sich heimlich über dessen Misserfolge. Selbstkritik? Fehlanzeige! In dem kleinen Fisch wird vielmehr die Stimme eines Flüsterers immer mächtiger, die Ängste schürt: Zu kurz zu kommen, vergessen zu werden und am Ende mit noch weniger Futter leben zu müssen. Er sucht nach einem Haar des großen Fisches, lässt kein gutes Haar an ihm und zieht viele boshafte Bemerkungen an den Haaren herbei. Er übersieht, dass das gefundene Haar von ihm selbst stammt – durch sein Kopfschütteln und Naserümpfen, das seine Minderwertigkeitsgefühle überspielen sollen.

Der große Fisch verspürt den Wunsch des kleinen Fisches, ihn am liebsten in gefährliche Tiefen zu verbannen. Immer angepasster schwimmt er mit dem Strom, um nur nicht aufzufallen und Neidgefühle zu erzeugen. Manchmal stellt er sich sogar tot. Schließlich wird er selbst zum kleinen Fisch, vergleicht, was nicht zu vergleichen ist, verallgemeinert und versucht den anderen in seiner Entwicklung einzuschränken.

Der Neid mit seinen destruktiven Vergleichen vergiftet das Wasser des Flusses, der langsam zum trüben Rinnsal wird. Dabei würde ein faires und konstruktives Vergleichen dem Fluss Dynamik oder ihm sogar ein neues Flussbett geben können!

Nicht alle glänzenden Würmer, die Neid wecken, schmecken. Sie können auch gefährliche Köder sein. Wer jedoch im Einklang mit sich selbst lebt, bleibt realistisch, weiß um tückische Strömungen, der konzentriert sich auf seine eigenen Stärken und macht sich nicht abhängig von den Urteilen anderer. Der gönnt anderen ihren Erfolg, den sie sich häufig durch große Anstrengungen verdient haben. Und kann dem vom Neid Zerfressenen seine Entwicklungshilfe anbieten – durch Wertschätzung seiner Person und durch Widerspruch bei den Neidobjekten. Damit große und kleine Fische im Fluss des Lebens die Quelle wahren Glückes finden: die göttliche Liebe ohne Bedingungen und ohne Ausnahmen.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 20.2.2021 sowie im Wolfenbütteler Schaufenster am 21.2.2021.

Narkotisierte Gesellschaft

Narkotisierte Gesellschaft

Moment mal

Narkotisierte Gesellschaft

Von Gilla Frank

Rote Kerze mit Flamme

Geht den Bürgern ein Licht auf?

Narkotisierte Gesellschaft

Leserbrief in F.A.Z. vom 15.02.2021

„Ich schließe mich dem Dank Ihrer Leserbriefschreiber Dr. Budde und Helmi Täschner an, die den Mut des Autors Thomas Thiel zum Artikel „Die Überwindung des Fleisches“ (F.A.Z. vom 29. Januar) über die beiden Gesetzentwürfe zu einem Selbstbestimmungsrecht loben. Wer sich gegen Vorhaben wie den Geschlechtswechsel per Sprechakt oder den Abbau von Prüfkriterien für die Geschlechtsumwandlung von Kindern ausspricht, wird in der Regel aggressiv verfolgt und eingeschüchtert. Die Referentenentwürfe der Grünen und Liberalen zum Thema Geschlechtsumwandlung bei Kindern und Jugendlichen sind derart anmaßend und empörend, dass hoffentlich ein Aufschrei in unserer Gesellschaft erfolgt. Aus meiner Sicht überschreitet es die Grenze zur Kindswohlgefährdung vorsätzlich und in hohem Maße, Kindern einen problemlosen‘ Geschlechterwechsel vorzugaukeln und einen schweren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit vorzubereiten, ohne Einwilligung der Eltern, ohne ärztliche Beratung und Gutachtereinschätzung. Die Gefahr dabei erklärt Thiel präzise: Gibt man Kindern die gewünschten Pubertätsblocker, folgt bei 98 Prozent auf die hormonelle die operative Geschlechtsumwandlung mit lebenslangen Risiken und Nebenwirkungen. Wer davon jedoch absieht, kann sich am Ende der volatilen Pubertät in den meisten Fällen wieder mit seinem angeborenen Geschlecht identifizieren. Wie narkotisiert ist eine Gesellschaft, wenn sie es unwidersprochen zulässt, dass Kindern ab 14 Jahren (!) das Selbstbestimmungsrecht in einer derart heiklen Frage zugestanden werden soll, die nicht einmal von Erwachsenen unproblematisch abzuwägen ist. Der Konflikt zwischen Kindern und deren besorgten Eltern ist vorprogrammiert. Ein Schelm, wer dabei auch noch an die Kinderrechte denkt, die in Kürze dem Grundgesetz eingefügt werden sollen. Diese werden das Grundrecht der Eltern auf Erziehung zusätzlich aufweichen und synergetisch wirken. Leser Dr. Budde hat recht: Ängstliches Weggucken oder Schweigen reichen leider nicht mehr aus, wenn ideologische Absolutheits- und Wahrheitsansprüche auf dem Rücken von Kindern und Eltern ausgetragen werden. Der exzellente Artikel von Thomas Thiel, der neben vielen Facetten auch die dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen beleuchtet, ist ein Lichtblick. Es wäre viel gewonnen, wenn er dazu beitragen würde, dass dieses vielfach noch unterschätzte Thema in die öffentliche Diskussion gelangt, und zwar bevor politisch in einer Nachtsitzung entschieden wird.“ Gilla Frank, Meerbusch (Reaktion auch auf meinen Leserbrief „Intoleranter Zeitgeist“ in der F.A.Z. vom 3. Februar 2021)
Tag der Liebe

Tag der Liebe

Moment mal

Tag der Liebe

Von Burkhard Budde 

Gibt es Liebe ohne Küsse?

Mehr wissen – besser verstehen 

Tag der Liebe und der Liebenden 

Valentinstag 

Zum Namen: Der Gedenktag am 14. Februar erinnert an St. Valentin aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., Bischof von Terni in Italien, der später zum Schutzpatron der Liebenden, aber auch der Jugend, der Reisenden und Imker wurde. 

Zur Geschichte: Vieles liegt im Dunkeln. War Valentin ein Mönch, der Blumen aus dem Klostergarten an Paare verschenkte? Ein Bischof, der heimlich christliche Paare traute, obwohl es verboten war und er deshalb hingerichtet wurde? Ein Heiliger, der einen jungen Menschen von seiner Blindheit geheilt hatte, die dankbare Familie taufte und deshalb den Märtyrertod erlitt? Ein Intellektueller, der den Kaiser durch seine Redekunst so provozierte, dass er ihn an einem 14. Februar töten ließ? Hat Valentin überhaupt gelebt? 

Am 14. Februar gab es jedenfalls im antiken Rom einen Feiertag zu Ehren der Göttin Juno, der Schützerin von Ehe und Familie, die mit ihrem leidenschaftlichen Ruf – im Liebesfieber? – auch Tiere aus dem Winterschlaf zur Paarung ermutigt haben soll. An diesem Feiertag wurden Frauen besonders mit Blumen geehrt. Vielleicht hat sich später – durch kirchlichen Einfluss – der Priester Valentin mit seinem guten Ruf und Einsatz für Liebende angeboten, das Thema „Liebe“ am 14. Februar zu „christianisieren“, also mit seiner Person neu zu verknüpfen und zu erklären.

Im 14. Jahrhundert wurde der 14. Februar immer mehr mit der „romantischen Liebe“ gefüllt. Der „Tag der Offenen Herzen“ etablierte sich durch europäische Auswanderer in den USA und dann auch in Kontinentaleuropa. 

Heute genießt der Tag weltweit durch viele Zeichen der Liebe und Zuneigung besondere Beachtung. Zum Beispiel in Deutschland (insbesondere durch Blumen), in England (Liebesgedichte), in Italien (Liebesbrief- Wettbewerb), USA und Indien (Grußkarten). In Japan werden Männer  am 14. Februar mit weißer Schokolade beschenkt, am 14. März erhalten dann Frauen „Gegengeschenke“, z.B. eine Einladung zum Essen. In allen Geschenken stecken Botschaften. Schokolade, die selbst gemacht ist, kommt „von Herzen“; die Schokolade, die teuer, aufwendig und in rosa Papier verpackt ist, weist auf die „Beliebtheit des sympathischen Chefs“ hin; die billige Schokolode auf die „Unbeliebtheit des Chefs“. 

Zur Bedeutung: Der Tag kann, muss aber kein Tag des ausschließlichen Kommerzes oder des Konsums sein. Er kann, muss aber kein Tag nur für Verliebte und Liebende, für Sehnsüchtige und Romantiker sein. Er kann, muss aber aus der romantischen Liebe keine Ideologie machen und ist deshalb auch kein pauschaler Angriff gegen Singles oder die arrangierte Ehe. 

Der Tag der Liebe erinnert vielmehr an eine umfassende Liebe, die den Liebeskummer und das Scheitern der Liebe, aber auch Liebeskümmerer und Neuanfänge mit bedenkt. Der Tag weist vor allem über sich selbst hinaus auf die Liebe hin, die als dynamische Kraft und Chance mitten im Alltag die freie Wahl von Liebes- und Lebenspartnern ermöglicht. 

Die Liebe nach Schema F gibt es nicht, da jeder Mensch anders ist. Aber das Bauchgefühl und die Leidenschaft sowie Vertrauen und Verantwortung gehören stets dazu.

Eine Liebeserklärung – in welcher Form auch immer – am möglichen Beginn einer Beziehung kann Falschgold oder Schminke sein, aber auch ein Juwel, wenn Herz gezeigt und zärtlich an eine Herzenstür geklopft wird – in der Hoffnung auf Einlass sowie auf ein Herz und eine Seele. 

Burkhard Budde

Zahlen als Weckruf

Zahlen als Weckruf

Moment mal

Zahlen als Weckruf

Von Burkhard Budde

Zahlen faszinieren, müsen aber auch interpretiert werden.

Als Zahlenmensch haben ihn Zahlen schon immer fasziniert. Er hat erlebt, dass in der Hitze eines Gefechtes nachvollziehbare Zahlen wie eine kalte Dusche wirken können. Heißsporne kühlen dann schneller ab und eine Diskussion kann leichter versachlicht werden. Leider können Zahlen auch instrumentalisiert werden, um Kritiker zum Schweigen zu bringen oder eine falsche Sicherheit vorzugaukeln. Und überhaupt sollte eine Zahl stets in ihrem Zusammenhang gedeutet werden.

Aber die Zahlen der „neuen Todesfälle binnen 24 Stunden“, die der Zahlenmensch täglich in den Nachrichten hört, machen ihm immer mehr Angst. Kommen die „Einschläge“ näher? fragt er sich. Ist sein geliebtes Leben auf brüchigen Stelzen oder gar auf gefährlichem Treibsand gebaut? Sind er und seine Liebsten von allen Seiten zu jeder Zeit angreifbar und verwundbar?

Der Zahlenmensch fängt an, weiterzudenken. Er macht sich bewusst, dass hinter jeder Zahl in der Todesstatistik Schicksale stehen: Ein Leben, das unwiderruflich zu Ende gegangen ist. Menschen, mit denen man nicht mehr lachen und weinen kann. Beziehungen, Kameradschaften, Partnerschaften und Freundschaften, die nicht mehr vertieft, bereichert, erfüllt und erneuert werden können.

Und der bohrende Gedanke lässt sich nicht länger verdrängen: Wie sind diese Menschen gestorben? Friedlich, in Würde? Oder im Streit, vereinsamt, grausam? Mit Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, im Gottvertrauen? Oder mit bitteren Fragen nach dem Warum und Wozu?

Der Zahlenmensch wird demütiger: Zahlen erzählen nichts über das Leiden konkreter Menschen. Aber sie können Triebfeder für eine vorsichtige und geduldige Gestaltung des stets gefährdeten Alltags sein. Und anfragen, was wirklich im Leben zählt. Zum Beispiel berechnend zu sein, um es einem anderen heimzuzahlen. Oder im gegenseitigen Respekt – auf der Grundlage belastbarer Zahlen – faire Lösungen in einem Konflikt zu suchen. Und dadurch dem Leben zu dienen.

Ein solcher Zahlenmensch ist keine Marionette der Zahlen; vielmehr ein freier Mensch, der sich nicht hinter Zahlen versteckt, sondern für den Zahlen ein Weckruf sind. Von Gott gewürdigt wird er von Gott gebraucht, um sich für die Würde aller sowie den Schutz des Lebens einzusetzen. Denn Zahlen ersetzen nicht notwendiges Vertrauen und persönliche Verantwortung.

Burkhard Budde

Veröffentlicht auch im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 13.2.2021 sowie im Wolfenbütteler Schaufenster am 14.2.2021