Moment mal

Zahlen als Weckruf

Von Burkhard Budde

Zahlen faszinieren, müsen aber auch interpretiert werden.

Als Zahlenmensch haben ihn Zahlen schon immer fasziniert. Er hat erlebt, dass in der Hitze eines Gefechtes nachvollziehbare Zahlen wie eine kalte Dusche wirken können. Heißsporne kühlen dann schneller ab und eine Diskussion kann leichter versachlicht werden. Leider können Zahlen auch instrumentalisiert werden, um Kritiker zum Schweigen zu bringen oder eine falsche Sicherheit vorzugaukeln. Und überhaupt sollte eine Zahl stets in ihrem Zusammenhang gedeutet werden.

Aber die Zahlen der „neuen Todesfälle binnen 24 Stunden“, die der Zahlenmensch täglich in den Nachrichten hört, machen ihm immer mehr Angst. Kommen die „Einschläge“ näher? fragt er sich. Ist sein geliebtes Leben auf brüchigen Stelzen oder gar auf gefährlichem Treibsand gebaut? Sind er und seine Liebsten von allen Seiten zu jeder Zeit angreifbar und verwundbar?

Der Zahlenmensch fängt an, weiterzudenken. Er macht sich bewusst, dass hinter jeder Zahl in der Todesstatistik Schicksale stehen: Ein Leben, das unwiderruflich zu Ende gegangen ist. Menschen, mit denen man nicht mehr lachen und weinen kann. Beziehungen, Kameradschaften, Partnerschaften und Freundschaften, die nicht mehr vertieft, bereichert, erfüllt und erneuert werden können.

Und der bohrende Gedanke lässt sich nicht länger verdrängen: Wie sind diese Menschen gestorben? Friedlich, in Würde? Oder im Streit, vereinsamt, grausam? Mit Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, im Gottvertrauen? Oder mit bitteren Fragen nach dem Warum und Wozu?

Der Zahlenmensch wird demütiger: Zahlen erzählen nichts über das Leiden konkreter Menschen. Aber sie können Triebfeder für eine vorsichtige und geduldige Gestaltung des stets gefährdeten Alltags sein. Und anfragen, was wirklich im Leben zählt. Zum Beispiel berechnend zu sein, um es einem anderen heimzuzahlen. Oder im gegenseitigen Respekt – auf der Grundlage belastbarer Zahlen – faire Lösungen in einem Konflikt zu suchen. Und dadurch dem Leben zu dienen.

Ein solcher Zahlenmensch ist keine Marionette der Zahlen; vielmehr ein freier Mensch, der sich nicht hinter Zahlen versteckt, sondern für den Zahlen ein Weckruf sind. Von Gott gewürdigt wird er von Gott gebraucht, um sich für die Würde aller sowie den Schutz des Lebens einzusetzen. Denn Zahlen ersetzen nicht notwendiges Vertrauen und persönliche Verantwortung.

Burkhard Budde

Veröffentlicht auch im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 13.2.2021 sowie im Wolfenbütteler Schaufenster am 14.2.2021