Menschlichkeit
Moment mal
Menschlichkeit
Von Burkhard Budde
Auf ein Wort
Menschlich bleiben
Amor, kein Unbekannter, begehrte Einlass. Doch die beiden Götter waren sich einig: „Den brauchen wir hier nicht“. Nur lernen, das dürfe er. Also hörte der kleine Gott der schalkhaften und überraschenden Liebe den beiden Mächtigen zu.
Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, erklärte stolz ihre Aufgaben. „Ich bin unabhängig und sorge für Fairness. Schau dir diese Augenbinde an. Wenn ich sie trage, kann ich leichter ohne Ansehen der Person urteilen; wenn ich sie nicht trage,“ schmunzelte sie, „dann kann ich leichter in der Gleichheit aller vor dem Gesetz die Ungleichheit der Menschen entdecken“. Und welche Bedeutung hat die Balkenwaage? „Wenn ich jedem gerecht werden will, muss ich abwägen, Bedingungen und Entwicklungen berücksichtigen.“ Doch auch sie müsse sich dabei stets an Recht und Gesetz halten. „In diesen Büchern“ – und sie hielt Amor das Grundgesetz und Gesetzesbücher unter die Nase – „findest du Maßstäbe und Regeln, – den Rahmen, an den sich alle, auch ich selbst, halten müssen, damit der Zusammenhalt bei aller Vielfalt und ein friedliches Miteinander möglich wird “.
Als Amor versehentlich ihr Schwert, das sie in der rechten Hand hielt, berührte und dabei erschrak, sagte Justitia nachdenklich: „Ohne harte Strafen, die konsequent durchgesetzt werden, würde ich zum zahnlosen Löwen“. Doch mit dem Schwert der Urteilskraft gelinge es, leichter den Buchstaben vom Geist des Gesetzes sowie Recht und Unrecht zu unterscheiden. Auch gehöre es zu ihren Aufgaben, die Schlange – Justitia stand mit einem Fuß auf ihr – daran zu hindern, ihr Gift des Neides, des Hasses und der Gier sowie des Gesetzesbruches zu verbreiten. Ungerechtigkeit und Unrecht zu überwinden und Gerechtigkeit, die ausgleicht und austeilt zu ermöglichen, sei ihr Ziel.
Jetzt erhob Libertas, die Göttin der Freiheit, ihre Stimme. „Ich vertrete ein natürliches Recht, das alle haben. Auch du, Amor, darfst deine Meinung unbefangen sagen, ohne Furcht vor Ersatzgöttern oder Halbgöttern, die keine anderen Götter neben sich oder sonstige Konkurrenz dulden. Setz diesen Hut auf als ein Zeichen, dass du kein unmündiger Sklave bist, auch kein unkritischer Mitläufer einer Religion, Moral, Weltanschauung oder einer Gruppe, sondern dass du ein aufgeklärter Sohn der Selbstbestimmung sein willst, der einen eigenen Mund hat und sein Leben eigenverantwortlich gestalten will.“ Wie eine Eule voller weiser Warnungen, ohne Eulen nach Athen tragen zu wollen, sprach Libertas noch von „Goldenen Zügeln“, „ideologischen Scheuklappen“, „Maulkörben“ und „Scheren im Kopf“, die es zu vermeiden gelte, um im Meinungskampf als Freier bestehen zu können.
Und dann reichte Libertas Amor noch ein Schwert, das dem Schwert der Justitia ähnelte, damit er frei von bevormundenden Lehren, leeren Normen, falschen Behauptungen oder willkürlichem Handeln bleibe und im Kampf um die Freiheit gerüstet sei, Chancen-, Leistungs-, Bedarfs- und Generationengerechtigkeit zu suchen und umzusetzen. Als Amor irritiert wirkte, ergänzte Libertas: „Mit diesem Schwert der freien Vernunft kannst du Sachkritik von Schmähkritik unterscheiden, die Freiheit vor Beleidigungen, Hetze und Gewalt verteidigen sowie die Freiheit Andersdenkender sichern.“ Und dann kam ein weiser Satz: Vor allem solle Amor sein Selbst finden, wahren und entwickeln, stets die Freiheit im Respekt vor der Freiheit des anderen wählen.
Doch Armor, der genau zuhörte, trug eine Augenbinde. Als er sie abnahm, sah er keine Götter, sondern Menschen, die sich in ihrer Geschaffenheit, Unvollkommenheit und Begrenztheit nach einem Gott der Liebe sehnten. Und er traf mit zwei Pfeilen das Herz dieser Geschöpfe und Ebenbilder Gottes, damit sie mit hingebender Leidenschaft und persönlicher Verantwortung ihre Aufgaben wahrnehmen konnten. Denn nur mit coolem Kopf und brennendem Herzen werden aus Worten lebendige Taten.
Und auch ein Machtmensch bleibt ein Mensch.
Und Menschlichkeit ist keine Schwäche, sondern Stärke.
Burkhard Budde