Selketal – Schätze für Schatzsucher

Selketal – Schätze für Schatzsucher

Land und Leute

Selketal – Schätze für Schatzsucher

Von Burkhard Budde

Wanderer im Selketal unterwegs.

Schatzsucher, deren Herz für die Natur schlägt, kommen am Selketal nicht vorbei. Das paradiesisch wirkende Tal im Ostharz, das von dem Fluss Selke auf einer Länge von 34 Kilometern durchflossen wird, ermöglicht Schätze „natürlicher Natur“ zu entdecken. Und zu erleben: Der von Menschenhand ungebremste und freie Fluss zwängt sich zeit­weise durch mächtiges Felsgestein aus gefaltetem Plattenschiefer hindurch, das vor mehr als 330 Millionen Jahren entstanden ist.

Ein etwa 69 Kilometer langer Wanderweg von Stiege nach Quedlinburg – der „Selketal-Stieg“ – führt meist dem natürlichen Flusslauf folgend den Wanderer in eine fast unbe­rührte Natur mit naturnahen Bachstrukturen, heimischen Laubbäumen an den Tal­hängen, einer besonderen Flora sowie in die Heimat seltener und gefährdeter Tiere wie Mauersegler, Wildkatze, Haselmaus und Zwergmaus.  

Und auch die Selketalbahn, die von der Harzgemeinde Mägdesprung aus 1887 zum ersten Mal die etwa 10,5 Kilometer lange Strecke nach Gernrode „keuchte“, lädt immer noch ein, sich auf eine reizvolle Schatzsuche zu begeben.

Ein Schatzsucher besonderer Art ist Detlef Marcus, der 50 Jahre lang in Wolfenbüttel ein Blumengeschäft geführt hat, und jetzt als Rentner seinem Hobby der Fotografie intensiv nachgeht. Im Herbst fängt der naturverbundene Hobbyfotograf mit seiner Kamera gerne die „Herbststimmung“ ein. Wie man bei seinen Aufnahmen sieht – mit seinen Augen und mit Hilfe der Kameratechnik. „Es soll gemütlich aussehen, Freude bereiten“, verrät Detlef Marcus, der zunächst mit dem Auto von Wolfenbüttel nach Alexisbad, einem Erholungs­zentrum des Naturschutzgebietes Selketal, gefahren ist, um von dort zu Fuß die Schätze vor allem in der Natur aufzusuchen. Vielleicht motivieren seine Aufnahmen andere, dem Geheimnis des Tales mit eigenen Augen auf die Spur zu kommen.

Ausgangsorte für eine Entdeckungstour können neben dem Alexisbad zum Beispiel auch Meisdorf sein (das „Tor zum Selketal“), Harzgerode, Königerode, Dankerode – um nur die Orte im Selketal zu nennen, die mit „-rode“ enden und ein Hinweis auf die Urbarmachung durch Waldrodung sind – oder die Burg Falkenstein, die 134 Meter über dem Selketal thront.

Viele Wege führen zum Selketal

Viele Wege führen zum Selketal.

Viele Schatzsucher im Selketal suchen nicht an erster Stelle ein Event bei Wellness, beim Bespaßen oder beim Abhaken touristischer Attraktionen in einem Outdoor-Gelände. Im Rückzugsort Selketal wollen sie vielmehr möglichst ohne (Freizeit-)Stress, ohne (nervende) Lautstärke, ungestört und unkontrolliert gleichsam auf leisen Sohlen Wanderlust erleben, die durch die atemberaubende Nähe mit urwüchsiger Natur entsteht: Wenn auf dem Wanderweg das Rauschen des wilden Flusses zu hören ist, das leise Rauschen des Windes im bunten Blätterwald, im Herbst auch das Knistern und Rascheln der abgefallenen gefärbten Blätter unter den Füßen. Wenn durch einen Sturm umge­knickte und entwurzelte Bäume den Weg versperren, die es zu überwinden gilt. Wenn Flora und Vogelstimmen sowie andere Tiere neugierig machen. Ja, wenn der Wanderer von Bäumen umgeben ist und plötzlich  umarmt wird, ihren Herzschlag oder sogar ihre Stimmen zu hören meint. Wenn er aber auch anfängt zu ahnen, dass er Teil der Natur ist, dass er auf dem Ast sitzt, an dem gesägt wird, wenn natürliche Ressourcen zerstört werden. Wenn er zugleich die Gewissheit verspürt, dass zum ewigen Kreislauf aus Welken und Erblühen, aus Vergehen und Werden auch eine geheimnisvolle Neuschöpfung gehört, wenn die Hoffnung auf Regenerationskraft blüht und Verantwortung für die Mitwelt wahr­genommen wird.

Die Selke bleibt ein stürmischer Fluss.

Dann ist er zu Fuß unterwegs. Und durch bewusste Selbstbewegung – Schritt für Schritt – sowie durch schöpferische Selbstbesinnung – ein Gedanke nach dem anderen – erlebt er einen persönlichen Fort-Schritt, wird der Weg in der Natur und durch die Natur selbst zum Ziel.

Helmstedt – Zeuge einer großen Zeit

Helmstedt – Zeuge einer großen Zeit

Land und Leute

Helmstedt – Zeuge einer großen Zeit

Von Burkhard Budde

Manfred Gruner und Meike Jenzen-Kociok

Regionalhistoriker Manfred Gruner und Buchhändlerin Meike Jenzen-Kociok in Helmstedt

Begeisterte können begeistern.

Zum Beispiel Meike Jenzen-Kociok, die seit 1994 als Buchhändlerin im „Herzen Deutschlands“ tätig ist und Führungen durch die kleine Stadt mit großer Geschichte anbietet.

Sie ist von den Reizen der Stadt Helmstedts, die zwischen Elm und Lappwald bzw. dem nördlichen Harzv­orland und dem Nord­deutschen Tief­land liegt, begeistert.

Und immer noch fasziniert von den über 400 Professoren- und Fach­werkh­äusern aus dem 16. und 17. Jahr­hundert, die das Stadtbild Helmstedts prägen und häufig mit infor­mati­ven Gedenktafeln und beein­druckenden Fassaden gestaltet sind.

In der Tat öffnet die reizvolle Universitäts­geschichte der Stadt, die der Besucher beim Anblick des „Juleums“, des Aula­gebäudes der ehemaligen Universität im palast­artigen Renaissance­stil aus den Jahren 1592 bis 1597 zunächst nur erahnen kann, die Tür zur älteren deutschen Geistes­geschichte.

Herzog Julius zu Braunschweig und Lüneburg, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel (1528-1589) hatte 1570 das Pädagogikum in Gandersheim gegründet. Diese Muster­schule für die Aus­bildung von Geist­lichen wurde 1574 nach Helmstedt verlegt, zu einer Hoch­schule erweitert und konnte 1576 als protestan­tische Universität „Academia Julia“ eingeweiht werden. 1568 hatte Herzog Julius die Refor­mation im Herzogtum Braunschweig eingeführt und strebte daraufhin eine neue Führungs­schicht mit Theologen, Juristen, Medizinern und Lehrern im neuen Glauben an.

Erbprinz Heinrich Julius (1564-1613) wurde im Alter von zwölf Jahren der erste Rektor und zugleich auch Student der neuen Universität. Vom damals bedeutendsten deutschen Baumeister Paul Franke aus Weimar wurde das schönste Universitäts­gebäude seiner Zeit im Stil der Renaissance geschaffen. Schnell entwickelte sich mit zunächst vier Theologen, fünf Medizinern, sechs Juristen und neun Philosophen sowie 15 000 Studenten, die bis zum Jahr 1635 einge­schrieben waren, ein geistiges Zentrum mit über­regionaler Bedeutung – die Nummer drei hinter Wittenberg und Leipzig im Blick auf die Besucher­zahl. In Deutschland gab es damals 18 Univer­sitäten.

Juleum in Helmstedt

Das zwischen 1904 und 1906 aus Velpker Sandstein errichtete Helmstedter Rathaus

Nach Helmstedt, eine damals 3000 Bürger zählende Stadt, – in das „Athen der Welfen“ (Platons antike philo­sophische Akademie wird auch als Mutter aller Universitäten be­zeichnet) – kamen protestan­tische Studenten von den Nieder­landen bis zum Baltikum. Die Studenten wurden gegen Entgelt – ein „Zubrot“ für die Professoren – in Professoren­haushalten unter­gebracht.

Bekannte Persönlich­keiten wirkten in Helmstedt; zum Beispiel der Humanist Johannes Caselius (1533-1613), der eine Schule der Philosophie gründete; der Theologe Georg Calixt (1586-1656), der als Weg­bereiter der Ökumene gilt; der Mediziner und Publizist Hermann Conring (1606-1681), der als Begründer der Wissen­schaft der deutschen Rechts­geschichte angesehen wird; der italienische Philosoph und Dominikaner­mönch Giordano Bruno (1548-1600), der die Lehre des Kopernikus – die Erde dreht sich als Planet um die eigene Achse und bewegt sich wie die anderen Planeten um die Sonne – vertrat und deshalb im Jahr 1600 als Ketzer auf einem Scheiter­haufen in Rom ermordet wurde.

Auch Studenten, die später berühmt wurden, waren auf dieser Universität mit aner­kannten Professoren, die sich zudem durch eine praxis­nahe Aus­rich­tung der Lehre auszeich­nete sowie durch erste gedruckte Vorlesungs­verzeich­nisse; zum Beispiel der Physiker Otto von Guericke aus Magdeburg (1602-1686), der insbe­sondere durch seine Experi­mente zum Luft­druck mit den Halb­kugeln bekannt wurde; der Mathe­matiker und Astronom Carl Friedrich Gauß aus Braun­schweig (177-1855), dem „Ersten unter den Mathe­matikern“.

Kaiser Napoleon Bonaparte (1769-1821) ließ in der napoleonischen Ära (1806-1813) bzw. im neu geschaf­fenen König­reich Westfalen, das sein Bruder Jérôme regierte, durch eine Verfügung in Paris im Jahre 1809 die Univer­sitäten Helmstedt und Rinteln aufheben, die sein Bruder dann 1810 besiegelte. Offen­sichtlich sollte nicht nur Geld gespart, sondern auch das Geistes­leben in Deutschland geschwächt werden.

Universität Helmstedt
Baumeister Paul Franke aus Weimar schuf das schönste Universitäts­gebäude seiner Zeit.

Etwa 233 Jahre bestand die Universität. Geblieben sind die Bibliothek mit etwa 35 000 historischen Titeln (viele Werke sind nach der Auflösung in die herzogliche Bibliothek nach Wolfen­büttel gekommen), ein Kreis- und Universitäts­museum, Gebäude und Werke, glanz­volle Stein­metz­arbeiten im Spät­renaissance­stil von unschätz­barem Wert. In Erinnerung bleiben auch Namen von Wissen­schaftlern, die Programm sind, Weichen gestellt haben, auf deren Rücken die Nach­welt steht, die die Gegen­wart deshalb besser verstehen und weiter – besonnener und demütiger – in die Zukunft sehen kann. Und Wilhelm Raabe (1831-1910), der mehrere Jahre in Wolfen­büttel lebte, hat mit seiner Novelle „Die alte Univer­sität“ (1858) die bedeutende Univer­sitäts­geschichte litera­risch fest­gehalten.

Begeistert von Helmstedt ist auch Regional­historiker Manfred Gruner aus Bad Harzburg. Zum begeisternden Gesicht der Stadt zählt er das Rohr’sche Renaissance­haus mit seinen faszinie­renden Schnitze­reien am Markt (Papen­berg 2), in dem Herzog Julius bei seinen Besuchen wohnte und das als Hof­lager des Herzogs diente.

Dort können offene Augen auf Entdeckungsreise gehen: Die Wappen u.a. von Herzog Heinrich d.J. und Herzog Julius. Aber auch die allegorischen Darstellungen der sieben freien Künste – Lehrfächer der philosophischen Fakultät – Rhetorik, Geometrie, Dialektik, Arithmetik, Musik, Astronomie, Grammatik wecken die Phantasie des Betrachters. Und die Pietas („Frömmigkeit“) ist zusätzlich eingefügt.

Rohr'sches Haus in Helmstedt

Das Rohr’sche Renaissancehaus mit seinen faszinierenden Schnitzereien am Markt

Zum schönsten Fach­werk­haus in Helmstedt aus dem Jahr 1567 gehören auch Frauen­gestalten, die Tugenden und Laster symboli­sieren sowie religiöse öffent­liche Bekennt­nisse (übersetzt): „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten um­sonst, die daran bauen. Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst. Wenn du dem Herrn deine Werke anver­traust, so werden deine Planungen gesegnet sein. Im Jahre des Herrn 1567“.

Der Helmstedter Historiker und Heraus­geber eines Magazins, Henning Schwannecke, ist zudem begeistert von den Lübbe­steinen, die ältesten vor­geschicht­lichen Denk­mäler der Region, Begräbnis- und Kultur­stätten, die zwischen 3500 und 3000 v. Chr. west­lich vor Helm­stedt ange­legt worden sind. Er nennt zudem die Paramenten­werkstatt im Helm­stedter Kloster St. Marien­berg, die von Mechthild von Veltheim geleitet wird, wo der Funke der Begeiste­rung für Hand­werks­kunst über­springen kann.
Burkhard Budde, Wittich Schober und Manfred Gruner

Autor Burkhard Budde, Helmstedts Bürgermeister Wittich Schobert und Regionalhistoriker Manfred Gruner (von links)

Ferner sollte das im Jahr 1994 eröff­nete Zonen­grenz-Museum in Helm­stedt auf­ge­sucht werden – ein Ort des Ge­den­kens an das „Tor im eiser­nen Vor­hang“ sowie an die Brücke zwischen Ost und West. Und die Klöster Ludgeri, Marien­berg, Marien­tal, die Kirchen der Stadt und der Haus­manns­turm geben span­nende Ein­blicke in eine fremde Welt, die bis heute prägende Spuren hinter­lassen haben.

Helmstedts Bürger­meister Wittich Schobert ist stolz auf seine „Bildungs­stadt“ mit früherer Univer­sität sowie mit der ersten Latein­schule Deutsch­lands, die von der Bürger­schaft ab 1362 geführt wurde. Das Thema „Bildung“ sei noch heute eine der Visiten­karten Helmstedts. Und die gegen­wärtigen Stärken der Stadt? Jetzt ist der Bürger­meister in seinem Element und beschreibt die „Zentralität“ (zentrale Lage mit guten Verkehrs­anbindungen), das „Wachs­tum“ (Durch Zuzug bleibt die Ein­wohner­zahl stabil) sowie die „wirt­schaft­liche Ent­wick­lung“ (Es gibt mehr Berufs­ein­pendler als Aus­pendler.

Die Stadt kann sich zwischen den Ober­zentren Wolfs­burg, Braun­schweig und Magde­burg als eigen­ständiger und unab­hängiger Wohn-, Handels- Dienst­leistungs- und Gewerbe­ort besser „positio­nieren“, wobei die gemein­schaft­liche Entwick­lung von Land­kreis und Kom­munen „für alle gut ist“). Und im Jahr 2022 wird zum Beispiel mit der An­siedlung eines bekannten Internet­betriebes gerechnet.

Ein Tourist, der Helmstedt nur im schnellen Tempo konsumiert, kehrt beein­druckt nach Hause zurück. Ein Besucher jedoch, der die Sehens­würdig­skeiten bewusst wahr­nimmt und historisch nachzu­empfinden versucht, wird von der Stadt faszi­niert berichten. Denn der Genius loci, der Geist des Ortes, begeistert durch histo­rische Bildung, in der Wahr­nehmung, Infor­mation, Kenntnis und Deutung zum Erlebnis ver­schmelzen.

Liebenburg – Ort mit Fingerzeig

Liebenburg – Ort mit Fingerzeig

Land und Leute

Liebenburg – Ort mit Fingerzeig

Von Burkhard Budde

Liebenburg - Blick vom Burgberg

Liebenburg – Blick vom Burgberg

Im Harzvorland zwischen Goslar und Salz­gitter sowie in der Nähe von Wolfen­büttel gibt es einen kleinen beschau­lichen Ort, der jedoch Nieder­sachsen­geschichte ge­schrie­ben hat. Die Rede ist von der Gemeinde Lieben­burg mit einem Schloss, das der Fürst­bischof Clemens August von Hildes­heim (1700 bis 1761) ab 1754 als barockes Jagd- und Som­mer­schloss errichten ließ und zu dem eine Barock­kirche gehört.

Zuvor stand auf dem Burg­berg die „Lewen­burg“, die der Bischof Siegfried der II von Hildes­heim 1292 bauen ließ, um sein Bistum gegen die Herzöge von Braun­schweig und Wolfen­büttel zu schützen.

Die damals stärkste Burg im Harz­vorland erlebte verschie­dene Herr­schaften – neben den Hildes­heimer Bischöfen den Herzog Heinrich den Jüngeren von Braun­schweig-Wolfen­büttel, der auf der Burg seine Geliebte Eva von Trott in den Jahren 1541 bis 1542 ver­steckte, aber auch im Dreißig­jährigen Krieg die Feld­herren Wallen­stein und Tilly, die die Burg längere Zeit als Haupt­quartier nutzten.

Gegen Ende des 17. Jahr­hunderts zerfiel die Burg­anlage immer mehr; heute sind noch drei ehemalige Wehr­türme zu sehen sowie einige Burg­mauern und ein alter Burggang.

Hausmannsturm - Aussichtsturm im Harzvorland

Hausmannsturm – Aussichtsturm im Harzvorland

In der Schlosskirche Liebenburg

In der Schlosskirche Liebenburg

Als einer der schönsten Aussichts­türme des nördlichen Harz­vor­landes gilt der Haus­manns­turm mit Blick auf den Brocken.

Auch wegen der Schloss­kirche lohnt sich ein Besuch Lieben­burgs. Der Barock­maler Joseph Gregor Wink, 1710 in Deggen­dorf in Nieder­bayern geboren und 1781 in Hildesheim gestorben, hat die Schlosskapelle 1758 mit Fresken – u.a. Episoden aus dem Leben des Heili­gen Clemens, der von 88 bis 97 nach Christi Papst von Rom war – so plastisch und präzise sowie farben­prächtig und leiden­schaft­lich glühend gestaltet, dass sie zum Staunen Anlass gibt. Es existiert wohl kein weiterer Fresken­maler dieser Qualität in der nord­deutschen Kunst­szene des 18. Jahr­hunderts.

Die Schlosskirche „Mariä Ver­kündi­gung“ ist heute zu­gleich katho­lische Pfarr­kirche, wird litur­gisch genutzt und atmet wie im 18. Jahr­hun­dert die beson­dere Nähe des Himmels auf Erden.

Fresko-Detail in der Schlosskirche Liebenburg

Fresko-Detail in der Schlosskirche Liebenburg

Eine weitere Rarität im erlebbar spirituellen Kontext sind die Werke des Malers und Grafikers Gerd Winner, der 1974 das Schloss Liebenburg als Wohn- und Künstler­haus erworben hat, nachdem es 17 Jahre lang leer gestanden hatte. Als Gerichts­gebäude mit Gefängnis­zellen diente das Schloss bis zur Mitte des 20. Jahr­hunderts. Nun wirkt der Ehren­bürger von Liebenburg in Liebenburg und darüber hinaus.

Seine Biografie – er ist Zeitzeuge des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges in Europa – erzählt spannende Geschichten.

Er gehört mit seinen viel­fältigen Werken bereits zur Kunst­geschichte u.a. mit seinen Grafikzyklen „London Transport“. „London Docks“, „Roadmarks“, „New York Times Square“.

Aber auch – gemein­sam mit seiner 1998 verstor­benen Frau Ingema Reuter – mit dem „Haus der Stille“ als begeh­baren Raum zur Medi­tation und Reflexion auf dem Gelände des ehema­ligen Konzen­trations­lagers Bergen-Belsen 1997; das „Haus der Stille“ wurde im Jahr 2000 zur Welt­ausstellung übergeben.

Gerd Winner - Maler und Grafiker

Gerd Winner – Maler, Grafiker und Schlossherr

In Braunschweig – hier 1936 geboren und zur Schule gegangen, besonders geprägt durch die Zerstörung der Heimat­stadt 1944 – fand er in seinem Kunst­lehrer Gottlieb Mordmüller ein Vorbild sowie einen Förderer.

Von 1956 bis 1962 studierte er an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin bei Prof. Werner Volkert, wo er „hautnah“ den Kalten Krieg erlebte; anschließend war er freier Maler und Graphiker.

In London lernte er die Sieb­druck­technik kennen; während eines Arbeits­aufenthaltes entstanden hier die Sieb­druck­serien bzw. die Grafik­zyklen.

In der Stadt Heinrichs des Löwen, wo ein Atelier für Sieb­druck aufgebaut wurde, begann die Zusam­men­arbeit mit dem Sieb­drucker Hajo Schulpius.

1972 erhielt Winner einen Lehr­auftrag an der Münchner Kunst­akademie; 1975 einen Ruf als Professor für Malerei und Graphik. 1974 hatte er das Schloss Liebenburg vom Land Nieder­sachsen erworben, um eine Sieb­druckwerk­statt sowie sein Atelier aufzu­bauen.

Das Pendeln zwischen seinen Arbeits­plätzen in Berlin und London sowie die Fahrten durch den „Korridor“ von Berlin in den Westen war auch wegen der Schikanen der DDR-Grenz­behörden immer schwieriger geworden.

Gerd Winner vor seinem Schloss

Künstler Gerd Winner vor seinem Schloss

Die Liebenburg wurde für ihn ein „Ruhe­pol“ bzw. eine „Flucht­burg“ und die Lieben­burger Natur „Inspirations­quelle“, wenn er mehrere Wochen in New York gear­beitet hatte, und eine beson­dere „Wirkstätte“ gemeinsam mit dem Sieb­drucker, wenn in München die vorlesungs­freie Zeit begonnen hatte, obwohl der Künstler auf die Metropolen als „geistige Quellen für Kreativität“ nicht verzichten möchte.

Vor allem jedoch, so Gerd Winner im Gespräch, sei Religion eine „perma­nente Urkraft“ – wich­tig für sein Wirken. Auch stehen Martina Winner, mit der er seit 1999 verheiratet ist sowie der Sohn Marian Maximilian, in der geschichts­orientierten, künstler­ischen und spirituellen Tradition des anerkannten Künstlers.

Die Stahl­skulpturen Winners, die seit 2009 im Schloss­park zu sehen sind, haben ihre Basis – ohne Sockel – direkt in der Natur. Und frisches, wachsen­des Gras wird als Zeichen neuen Lebens sichtbar; das Material schafft die Ver­bin­dung zur Arbeits­welt. Vor allem jedoch sind es die nach oben gerichtete „Pfeile“, die als Symbol der Aufer­stehung verstanden werden können.

Gerd Winner - Pfeilskulpturen

Gerd Winner – Pfeilskulpturen als Symbol der Auferstehung

Oder eine kreis­förmige Boden­skulptur, die ein vier­teiliges Laby­rinth zeigt, kann auf die vier Lebens­phasen sowie auf die vier Evangelien, auf den „existen­tiellen Weg zu Gott“ (Winner) hinweisen. Darüber hinaus stehen die Skulpturen im Zusammen­hang mit der inter­nationalen Straße des Friedens von Paris nach Moskau und haben damit auch eine über­regionale Bedeutung.

Oder in der stählernen „Himmels­scheibe“ am Hang des Parks – der auf­gehen­den Sonne entgegen­gerichtet – durch­dringen sich in abstrakter Form Alpha und Omega, Zeichen von Anfang und Ende, so Winner, aber wohl auch von ewigem Leben, eine Hoffnung auf Neu­anfänge ohne Ende – durch Gott und zu ihm hin.

Labyrinth von Gerd Winner
Labyrinth – kreisförmige Boden­skulptur von Gerd Winner

Und seine Zeichnungen? In mehr­schichtigen Reflektionen und Durch­dringungen, erläutert Gerd Winner, verschmelzen die persönlichen Eindrücke und Erlebnisse mit den Folgen des Leidens. Und „in der Summe richten sich meine Anfragen zur Passion der Menschen direkt und indirekt an die Passion Christi“, gibt der Künstler zu bedenken.

Winner-Kunst mit religiösen Perspektiven gibt an vielen Orten – in Braunschweig (z.B. in den Dominikaner Kirchen St. Albertus Magnus), Salzgitter-Bad („Jakobsleiter“, „Schwerter zu Pflugscharen“), Wolfenbüttel („Turm der Technik“) und darüber hinaus.

Gerd Winner und Burkhard Budde

Gerd Winner und Burkhard Budde vor dem Bild „Christuskopf“

Im Jahr 2002 gestaltete Gerd Winner den „Christuskopf“ an der Stirn­seite des Alten­pflege­heimes Bethanien in Braun­schweig. „Wir haben vorher darüber gesprochen“, erinnert sich der Künstler im Gespräch mit dem Verfasser dieses Artikels, der ihn damals mit dem Vorstand in Lieben­burg besucht hatte.

Es sollte kein abstraktes Kunstwerk entstehen, sondern eines, das die Menschen mitnimmt, dass sie neu und persönlich anrührt, menschlich zu bleiben und in Bewegung versetzt. Damit in dem Haus der Diakonie christliche Nächsten­liebe erfahrbar bleibt, mutige Schritt­macher der Liebe gestärkt werden sowie Spuren des Göttlichen und letzte Geborgen­heit entdeckt werden können.

Winners verstorbene Frau Ingema Reuter hatte einen Entwurf des Christuskopfes angefertigt. Und Gerd Winner hat das Kunstwerk „posthum“ technisch, aber auch als „geistliches Programm“ vollendet.

Doch die Fragen an den Schmerzensmann, der mit seinem Geist der schöpferischen Liebe neues Vertrauen und Hoff­nung schenken möchte, bleiben. Und der Betrachter muss die Botschaft angesichts von Konflikten und anderen He­raus­forderungen immer wieder neu ent­schlüsseln. Und der Künstler kann mit seiner Kunst dabei helfen – ohne pä­dago­gischen Zeige­finger, wohl aber mit spirituellem Finger­zeig.

(Veröffentlicht auch im Wolfen­bütteler Schau­fenster am 18.10.2020)
Glück beglückt

Glück beglückt

Tag der Deutschen Einheit

Glück beglückt

Von Burkhard Budde

Auf dem Brocken-Gipfel

Auf dem Brocken-Gipfel in 1142 Metern Höhe.

Der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 macht Menschen glücklich, die unglücklich waren: Wer unter der DDR-Diktatur mit ihrer Willkür­herrschaft, der Unfreiheit, dem Stachel­draht und Schieß­befehl sowie sozialistischer Um­erzie­hung gelitten hat, ist heute besonders dankbar für ein Leben in Würde, für gelebte Demokratie, echte Rechts­staatlich­keit und unabhängige Medien. Und an einem Tag wie diesem besonders glücklich.

Eine autoritäre Welt mit ideolo­gischen Scheu­klappen, totalitärem Denken, einer Angst- und Bespitzelungs­kultur gehört der Vergangen­heit an, die aber besonders im Blick auf die Opfer der Verletzung der Menschen­rechte noch perspektivisch aufge­arbeitet werden muss. Denn wenn das Benennen von Unrecht unter den Teppich gekehrt oder politisch verharmlost wird, schafft man den Nähr­boden für neues Unrecht.

Weiter Blick vom Brocken

Vom Brocken bietet sich ein weiter Blick über das Land.

Es gibt nach der Wieder­vereinigung keine heile Welt, aber eine heilbarere – als Dauer­aufgabe aller Demokraten, die die Gemeinsam­keiten mehr betonen als die Unter­schiede, um das Unvoll­kommene und Unvoll­endete besser über­winden zu können – nicht um alles gleich zu machen, aber um das gleich­wertig Unter­schiedliche produktiv für das Ganze fruchtbar zu machen, um die Einheit in Vielfalt auf dem Fundament eines offenen Patrio­tismus im Geiste des Grund­gesetzes anzu­streben.

Der Brocken, der höchste Berg Nord­deut­schlands, der 28 Jahre militä­risches Sperr­gebiet war, ist immer noch Symbol dieser Sehn­sucht – nach Frei­heit und Weite, Begeg­nung und gemein­samer Zukunft.

Auch Prof. Dr. Reza Asghari (r.) freute sich über die vielen fröh­lichen Menschen auf dem „Vater Brocken“, die gemein­sam an die geglückte Wieder­vereinigung dachten.

Burkhard Budde
Dr. Burkhard Budde und Prof. Dr. Reza Asghari

Dr. Burkhard Budde und Prof. Dr. Reza Asghari

Königslutter – Brunnen der Geschichte

Königslutter – Brunnen der Geschichte

Land und Leute

Königslutter – Brunnen der Geschichte

Von Burkhard Budde

Königslutter am Nordrand des Elms

Die Kleinstadt Königslutter am Nordrand des Elms ist das Tor zum Naturpark Elm-Lappwald.

Gesteinssammlung im Geopark-Informationszentrum in Königslutter
Gesteinssammlung im Geopark-Informations­zentrum in Königslutter

Ein Blick lohnt sich: Kein flüchtiger, auf keinen Fall ein böser, auch kein gleich­gültiger oder über­heblicher. Aber ein neu­gieriger und kritischer Blick in wunder­bare Brunnen span­nender Geschichte und Geschichten ermöglicht immer wieder neue Ent­deckungen in der Tiefe des Lebens, die man nicht so schnell vergisst.

Die Kleinstadt Königslutter, die am Nordrand des Elms liegt und das Tor zum Naturpark „Elm-Lappwald“ ist, bietet solche Brunnen­erlebnisse.

Da ist zum Beispiel der Brunnen der Erd- und Natur­geschichte:

Ingrid Ehrlichmann, ehrenamtliche Munseumsmitarbeiterin

Ingrid Ehrlichmann, ehrenamtliche Mitarbeiterin des Museums im Geopark-Infozentrum

Im Geopark-Informationszentrum An der Stadtkirche 1 in Königslutter befindet sich eine Gesteins­sammlung, die „stein­reich“ ist. Der Kauf­mann Otto Klages, gestorben 1982, hat sie – über zwei­tausend „erzäh­lende Steine“ – 1972 seiner Vater­stadt Königs­lutter über­geben. Aus tiefer Ehr­furcht vor dem Leben, das Jahr­millionen im Kern der ver­steinerten Kruste einge­schlossen war, sammelte Klages leiden­schaftlich Fossilien, Steine und Mineralien.

Vor allem in der Landschaft zwischen dem Harz und dem Flechtinger Höhen­zug wurde er fündig. Aus der Tiefe dieses „Brunnens“ konnte so die Vielfalt des Lebens vergan­gener Zeiten – 290 Millionen Jahre Erd­geschichte – das Licht der Gegen­wart erblicken.

Ingrid Ehrlichmann, seit 10 Jahren ehren­amtliche Mitarbei­te­rin dieses Museums, das gleich­zeitig das Eingangs­portal zum UNESCO Geopark Harz – Braunschweiger Land – Ostfalen ist, weiß, dass es kaum ein vergleich­bares Gebiet in Europa gibt.

„Die Gegend ist einmalig. Die gesamte Erd­geschichte liegt vor den Füßen. Wir leben in dieser Region auf einem Schatz“, sagt die Natur­lieb­haberin mit leuch­tenden Augen. Durch Salz­aufstieg im Unter­grund sowie durch Meeres­vorstöße sei eine einzig­artige Land­schaft ent­standen. Und ihr Lieblings­berg? Frau Ehrlich­mann muss nicht lange nach­denken: „Das Natur­schutz­gebiet Heese­berg bei Jerxheim im Land­kreis Helmstedt mit den Stein­brüchen, den Adonis­röschen und der Hünenburg bei Watenstedt.“

Und bei diesem Lebens­raum kann man sich vorstellen, dass Homo erectus und Homo sapiens – über­haupt die Vor­fahren der Menschen aus der Steinzeit – ihre Spuren hinter­lassen haben, etwa bei Salzgitter-Lebenstedt (50 000 Jahre altes Jäger­lager der Neandertaler) oder bei Schöningen / Paläon 1 (Speere aus der Zeit vor 300 000 Jahren).

Ein weiteres Beispiel ist der Brunnen der Kultur- und Musik­geschichte:

Britta Edelmann, Leiterin im Museum Mechanischer Musikinstrumente

Britta Edelmann – Museumsleiterin im Museum Mechanischer Musikinstrumente

Britta Edelmann (vorn) und Anna Dziatzka

Museumsleiterin Britta Edelmann (vorn) und die studentische Aushilfe Anna Dziatzka

Im Museum Mechanischer Musik­instrumente (MMM) Vor dem Kaiserdom 3-5 arbeitet seit 2004 Britta Edelmann als Museums­leiterin.

Die Sammlung von internatio­nalem Rang informiert über 250 Jahre Geschichte mechanischer Musik­instrumente bzw. über ihre kultur­geschicht­liche und technische Entwicklung.

Stolz berichtet Frau Edelmann, dass alle etwa 235 Instru­mente – darunter eine Spiel­uhr, die die Größe eines 1 Cent-Stückes hat und eine Karussell­orgel mit einer Größe von 3 x 4 Metern – „funktio­nieren und mit dem Klang vergan­gener Jahr­hunderte die Ohren des Besuchers zum Besuch in eine fremde Musik­welt einladen.“

Im ausgehenden 18. Jahrhundert ließen Adel und vermö­gendes Bürger­tum sich vor allem durch Flöten­uhren unter­halten.

In bürgerliche Wohnzimmer kamen kleine Walzen­spiel­dosen, Tisch­dreh­orgeln sowie erste elektri­sche Klaviere zum Einsatz.

In privaten Salons und Vergnügungs­etablisse­ments waren Orchestrien beliebt, die ein ganzes Orchester zu imitieren versuchten. Und auf Jahr­märkten im 19. Jahr­hundert hörte man Leier­kästen bzw. Dreh­orgeln.

Auch die studentische Aushilfe im Museum, Anna Dziatzka (27), ist begeistert von der musealen Präsentation: „Große und kleine Ohren lernen, neu zu hören, die alte Zeit ohne Musik­knopf im Ohr besser zu verstehen und die Gegen­wart bewusster zu erleben“.

Der Regionalhistoriker Manfred Gruner aus Bad Harzburg erinnert an den Braun­schweiger Kaufmann Jens Carlson, dem das Museum die einma­lige Samm­lung zu verdanken hat. Der hatte zunächst Kauf­ange­bote aus Japan und den USA sowie aus Braun­schweig, akzeptierte jedoch schließlich das Ange­bot aus Königs­lutter, um die ehemalige Wasser­mühle neben dem Kaiser­dom zur neuen Heimat der Expo­nate zu machen.

Ein weiteres unver­wechsel­bares Beispiel ist der Brunnen der Stadt- und Kirchen­geschichte:

Der Kaiserdom in Königslutter

Der Kaiserdom – eigentlich die Stiftskirche St. Peter und Paul – in Königslutter

Kaiser Lothar III auf einem Wandbild im Kaiserdom

Kaiser Lothar III auf einem Wandbild im Kaiserdom in Königslutter

Der Kaiserdom – eigentlich die Stifts­kirche St. Peter und Paul – gehört zu den bedeu­tendsten Bauwerken der Romanik in Deutschland.

1135 stiftete Lothar von Süpplingen­burg – Herzog von Sachsen, 1125 König, 1133 Kaiser – ein Bene­diktiner­kloster mit der Kloster­kirche St. Peter und Paul als Grablege für sich und seine Familie sowie als Zeichen seiner Macht im Quell­gebiet der Lutter. Als Lothar III zwei Jahre später starb, wurde er in einer unvoll­endeten Kirche beigesetzt.

Erst um 1170 wurde der Bau unter seinem Enkel Heinrich dem Löwen fertig­gestellt. Vor allem der nördliche Teil der klassischen roma­nischen bzw. kreuz­förmigen Pfeiler­basilika mit seinen zehn Säulen, die ganz unter­schiedlich gestaltet sind, gehört zu den Besonder­heiten in Nord­deutschland.

Und welche Überraschungen kann der Besucher beim Blick in diesen „Brunnen“ noch erleben?

Im Rahmen dieses Artikels können nur einzelne Entdeckungen geschildert werden:

Das Löwenportal - Hauptzugang in den Kaiserdom

Das Löwenportal ist der Hauptzugang in den Kaiserdom.

Beim Blick auf das „Löwenportal“, dem Hauptzugang in die Kirche, fallen die reich verzierten Säulen auf, aber auch zwei Löwen; der linke mit einem menschlichen Opfer, das er fest in seinen Pranken hält; der rechte mit einem Widder, den er scheinbar schützt oder „nur“ festhält. Der König der Tiere – hier ein Symbol für brutale Macht oder für empathische Fürsorge?

Beim Blick auf den „Jagdfries“, eine 1135 von Steinmetzen aus Oberitalien aus der Schule des Baumeisters Nikolaus von Verona gestaltete Bildfolge an der Außenseite des Kaiserdoms, die den Kampf der Jäger mit den Hasen zeigt, fällt besonders die Szene in der Mitte der Apsis auf:

Zwei Hasen, die grimmig blicken, fesseln den Jäger, der eben noch den erlegten Hasen am Stock davon trug.

Verdrehte Rollen? Wird der Jäger zum Gejagten, der Gejagte zum Jäger? Kann die Jagd nach Macht, Geld und Ruhm im Spannungsfeld von Himmel, Erde und Unterwelt überhaupt vom „gefesselten“ Menschen gewonnen werden? Gibt es Scheinsiege der starken Schwachen oder der schwachen Starken? Siegt am Ende der „Teufel“ in den Hasen oder der „Löwe von Juda“, Christus?

Es bleibt eine rätselhafte Symbolik, die jedoch die Phantasie beflügelt.

Der Jagdfries - Bildfolge an der Außenseite des Kaiserdoms

Der Jagdfries – Bildfolge an der Außenseite des Kaiserdoms

Zwei Hasen fesseln den Jäger

Zwei Hasen fesseln den Jäger – Szene in der Mitte der Apsis

Liegefiguren der Kaiserlichen Grablege im Kauserdom Königslutter

Liegefiguren der Kaiserlichen Grablege im Kaiserdom Königslutter

Beim Blick auf die „Kaiserliche Grablege“, die mit ihrer barocken Grab­platte aus dem Jahr 1708 bzw. mit ihren Liege­figuren an Kaiser Lothar III (gest. 1137), an seinen Schwieger­sohn Herzog Heinrich den Stolzen (gest. 1139) und an die Kaiser­gemahlin Richenza (gest. 1141) erinnert, fallen die Herr­schafts­zeichen wie Reichs­apfel, Zepter und Krone auf.

Und erinnern damit auch an die ehrgeizigen und unbedingten Macht­ansprüche einer vergangenen Zeit, in der es keine Demokratie oder Mensch­rechte gab, wohl aber viel Pionier­geist sowie einen von der Frömmig­keit geprägten Willen, Macht zu erhalten und zu vermehren, um sich im Brunnen der Geschichte zu verewigen, obwohl alles vergäng­lich und endlich ist und bleibt.

Kaisergemahlin Richenza auf einem Wandbild im Kaiserdom

Kaisergemahlin Richenza auf einem Wandbild im Kaiserdom in Königslutter

Kaiser-Lothar-Linde auf dem ehemaligen Klosterhof

Die Kaiser-Lothar-Linde auf dem ehemaligen Klosterhof

Klosterhof in Königslutter mit Kaiser-Lothar-Linde

Klosterhof in Königslutter mit Kaiser-Lothar-Linde

Beim Blick auf die „Kaiser-Lothar-Linde“, die auf dem Gelände des ehemaligen Kloster­hofes – heute des AWO Psychiatrie­zentrums – steht und ein geschätztes Alter von 800 bis 1000 Jahren hat – vielleicht auch von Kaiser Lothar bei der Grund­stein­legung der Kirche selbst gepflanzt worden ist – fallen der Stamm­umfang von fast 13 Metern sowie die Krone mit einem Durch­messer von 30 Metern auf.

Die Sommer­linde ist trotz des Alters „vital, kräftig im Wuchs und verzeichnet einen jähr­lichen Kronen­zuwachs“, wie der Land­kreis über das „einzig­artige Natur­denkmal“ schreibt.

Weckt dieser Lebens­baum nicht Ehr­furcht vor dem Alter, vor der Natur, vor dem Leben als Teil der Natur? Anlass zum Staunen und dem Schöpfer auf die Spur zu kommen?

Das Mahnmal „Weg der Besinnung“

Das Mahnmal „Weg der Besinnung“ im Berggarten westlich des Kaiserdoms

Beim Blick auf das Mahnmal „Weg der Besinnung“, das im Berg­garten westlich des Kaiser­doms zu sehen ist und im Jahr 2002 vom Königs­lutteraner Bild­hauer Günter Dittmann ge­schaf­fen wurde, fällt es dem aufmerk­samen Besucher wie Schuppen von den Augen: Das Mahn­mal soll nicht nur an die „Euthanasie“- Maß­nahmen während der NS-Diktatur erin­nern, bei den zwischen 1939 und 1945 mindestens 130.000 Kinder und Erwachsene ermordet wurden.

Es soll die Verantwortung wecken, nie wieder wegzuschauen oder mitzuwirken, wenn wie ab 1934 in den damaligen Neuerkeröder Anstalten und in der damaligen Landes-Heil- und Pfleganstalt Königslutter kranke Menschen umgebracht wurden: „Wir wollen hinschauen, wenn Unrecht geschieht und uns einmischen.“ Ein Appell an die Menschlichkeit und Würde, der eine bleibende Bedeutung behält.

Der Markt als Zentrum der Stadt Königslutter

Der Markt als Zentrum der Stadt Königslutter mit Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert

Fernab vom Trubel, von der Hektik und der Lautstärke kann man in Königslutter in viele „Brunnen“ schauen.

Manfred Gruner nennt u.a. noch das dreigeschossige „Leidenfrosthaus“ mit zweigeschossigem mittigen Erkern auf hohen Säulen dem Jahr 1674, den Markt als Zentrum der Stadt mit Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert oder die Pfarrkirche St. Sebastian und St. Fabian hinter den beiden Rathäusern.

Brunnen können verschüttet, vergessen, versteckt oder ignoriert werden. Wunderbare Brunnen jedoch, die viel zu erzählen wissen, sind nicht nur ideale Orte der Stille, Treff­punkte von Gemein­schaften, sondern auch sprudelnde Quellen, aus denen neue Erkennt­nisse und Ein­sichten sowie Erfahr­ungen geschöpft werden können. Und wer tief genug in die Tiefe eines solchen Brunnen blickt und geistig bohrt, kann sogar sich selbst, vielleicht auch neuen Lebens­sinn entdecken.

(veröffentlicht auch im Wolfenbütteler Schaufenster am 4.10.2020)

Das Rathaus am Markt in Königslutter

Das Rathaus am Markt im Zentrum der Stadt Königslutter