Moment mal

Neid als Gift

Von Burkhard Budde

Auf ein Wort

Furcht vor Neid? (Zehntes Gebot)

Zehn Lebensperspektiven begründen das Zusammenleben, stärken den Zusammenhalt und erneuern das Zusammenbleiben: Die Zehn Gebote gehören zur einheits- und sinnstiftenden Schatzkammer von Juden und Christen. Sie sind jedoch auch eine Einladung an Andersdenkende, in den Raum des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe einzutreten, um neue Entdeckungen sammeln zu können –  vielleicht auch ein glückseliges Leben in der letzten Geborgenheit bei und durch Gott sowie in der Verantwortung vor Gott und dem Nächsten zu führen.

Die zehnte Perspektive lautet:

Du sollst deinen Nächsten nicht beneiden. 

Niemanden beneiden? 

Eine mögliche Antwort ist:

Weil Gott will, dass sich jeder Mensch mit seinen Gaben und Aufgaben entwickeln kann. 

Dein Leben wird beseelt, gewinnt Sinn und Liebe, wenn du deine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, Bedürfnisse und Erwartungen, Träume und Ziele entdecken, wahrnehmen und entwickeln kannst, aber auch faire und gerechte Lebenschancen anderen Menschen zubilligst. Der Neidische, der ständig vergleicht, über sein eigenes Unglück todtraurig und über das Glück des anderen todunglücklich ist, bremst nicht nur den Beneideten in seiner Entwicklung aus, sondern schadet sich auch selbst und der Gemeinschaft, weil er den eigenen und fremden Fortschritt bremst und Lebensqualität vernichtet. Wer jedoch die Leistung, den Erfolg und das Können, das Sein und Haben seines Mitmenschen schätzt, als gerecht erkennt und als positiv anerkennt, bekennt sich zu einem gemeinsamen Leben, in dem ein glaubwürdiges Vorbild zum anspornenden Leitbild in Freiheit und Verantwortung erlebbar wird – als menschliches Abbild des Willens Gottes, der eine gemeinsame Zukunft verspricht. 

Aber wenn der Neider seinen Neid, der ihn selbst und andere schleichend lähmt und das Seelenleben zerstört, nicht merkt oder verdrängt? Der Beneidete aus Furcht vor neidischen Blicken sein Glück lieber versteckt oder gar seine Hände in den Schoß legt? Aus einem Beneideten ein Neider wird? Oder der Neider zum Beneideten?

Ein kleiner Fisch wollte groß und größer werden. Ständig schielte er nach dem großen Fisch in seiner Nähe. Das fremde Glück erschien ihm als sein Unglück. Er verspürte quälende Stiche: Warum bin ich nicht so schön? Warum kann ich nicht so schnell schwimmen? Warum habe ich nicht so viel Nahrung? Warum hat mich keiner zum Fressen gern? Das dauernde und übertriebene Vergleichen nagte an seinem Selbstwertgefühl. Und zerstörte jegliche seiner Beziehungen, weil er nur noch das Fiese und Ungerechte kannte, vor allem selbst ungenießbar wurde, selbst wenn er die schöne Maske des Bescheidenen und des Höflichen aufsetzte.

Der große Fisch jedoch, der im Lichte der Sonnenstrahlen manchmal meinte, er sei etwas ganz Besonderes oder sogar Besseres, und dieses Denken auch nicht verheimlichte, verspürte ein schleichendes Gift: Immer häufiger die Freude des kleinen Fisches über sein Unglück und die Trauer über sein Glück. War seine Existenz bedroht? Er überlegte: Sollte er nicht lieber im Schwarm unauffällig mitschwimmen? Oder sich vom kleinen Fisch entfernen, um an anderer Stelle sein Glück zu suchen?

Andererseits: Werden nicht alle Fische im weiten Meer der kostbaren Vielfalt gebraucht? Der Neider, wenn er sich z. B. auf seine Stärken und Aufgaben konzentriert und seine eigenen Chancen wahrnimmt. Und der Beneidete, wenn er z. B. für frisches Wasser sorgt und seine Taten nicht von neidgetränkter Engstirnigkeit miesmachen lässt?

Beide Fische sollten das Wasser, in dem und von dem sie leben, nicht trüben. Ihre Augen können wieder staunen, bewundern und strahlen, wenn sich jeder Fisch in seiner Sinnhaftigkeit und Liebenswürdigkeit von seinem Schöpfer unabhängig von seinen Werken gewürdigt weiß.

Burkhard Budde

Veröffentlicht am 19.11.2023 in der Kolumne „Auf ein Wort“ des Wolfenbütteler Schaufensters