Moment mal
Unantastbare Würde
Von Burkhard Budde
Auf ein Wort
Ohne Würde leben?
In diesem Jahr wäre ein lieber Freund von mir fast 100 Jahre alt geworden. Ich erinnere mich gut an ihn, wie er seine Lebensphilosophie, die in der Minden Ravensberger Frömmigkeit wurzelte, in vielen Diskussionen mit seiner Familie, seinen Freunden und im Beruf vertrat: Jeder Mensch sei ein Original, das ihn unverwechselbar mache, und jeder Mensch habe eine Würde, die ein Mensch nie verlieren würde.
Ich selbst habe dieser Botschaft gerne zugestimmt, weil ich etwas von der Einmaligkeit, Kostbarkeit und Besonderheit menschlichen Lebens in Gemeinschaft verspürte. Aber richtig unter die Haut gegangen ist sie mir erst, als mein Freund im hohen Alter an einer schweren Demenz erkrankte. Er konnte immer weniger die Welt um ihn herum „realistisch wahrnehmen“, vergaß immer mehr, verwechselte immer häufiger Personen und Orte, wurde orientierungsloser, unruhiger, nervöser und schien langsam in eine andere Welt einzutreten, die für die Familie und seinen Freundeskreis wie verschlossen erschien. Nur eine Brücke war fast bis zum Ende seines Lebens für alle begehbar und erlebbar: Das Spielen von Liedern auf seiner Mundharmonika. Dann strahlten seine Augen, wenn seine Zuhörer nach einem gelungenen Vorspiel applaudierten und vor Freude weinen mussten.
Je länger jedoch sein Krankheitsverlauf dauerte und er immer seltener in unserer Welt „Besuche“ machte, was er wohl selbst verspürte, desto häufiger sagte er mit treuen und zugleich fragenden Augen: „Habe ich nicht auch eine Würde?!“
Spätestens jetzt hatte ich verstanden, was in jedem Leben wirklich wichtig bleibt: Ein Mensch lässt sich nicht auf Gesundheit oder Krankheit, Fitness oder Pflegbedürftigkeit, gute oder schlechte Prognose, aber auch nicht auf Erfolg oder Scheitern, Alter, Geschlecht, Herkunft, Gruppenzugehörigkeit, Gesinnung, Titel oder Mittel reduzieren.
Denn seine Würde, die ihm angeboren ist, wird ein Mensch an keinem Ort und zu keinem Zeitpunkt los. Deshalb ist es „würdelos“, Menschen in Schubfächer einzusortieren, um sie aussortieren zu können, sie in Vorurteile und Feindbilder einzusperren, um sie später als Sündenböcke in die Wüste schicken zu können oder zu verdinglichen.
Ich bin seiner Frau dankbar, dass sie ihn mit Hilfe ihrer Tochter und ambulanter Dienste bis zum Schluss seines Lebens pflegen konnte. Ich weiß jedoch auch, dass das nicht selbstverständlich war und jede Situation anders ist. Und dass andere familiäre Bedingungen andere verantwortbare, menschliche und soziale sowie medizinisch und pflegerische Lösungen erforderlich machen.
Doch die Würdegarantie, das habe ich gelernt, ist kein Selbstläufer, auch und gerade angesichts eines rein ökonomischen Denkens („Rendite um jeden Preis“), eines übertriebenen Egodenkens („Was hab ich davon?“), eines unsozialen Denkens („Andere sind zuständig“), eines falschen Perfektionsdenkens („Nur das Perfekte zählt!“), sowie einer großen Gleichgültigkeit, Ahnungslosigkeit und Ängstlichkeit – alles Kräfte eines unaufgeklärten Denkens, die zur Entmenschlichung und Entwürdigung beitragen können. Und selbst hinter der Maske der Barmherzigkeit kann ein Mensch zum einseitigen Objekt – Kostenfaktor, Erlösfaktor – werden, das fürsorgliche Annahme sowie eine Freiheit und Selbstbestimmung im Leiden in Frage stellt.
Deshalb braucht die Würdegarantie eine spirituelle Verankerung – die reale Vision, dass die Würde ein Geschenk Gottes ist. Gott, der die letzte Verantwortungsinstanz jenseits jeglichen Denkens ist, will nicht, dass die menschliche Würde seines Ebenbildes geteilt, aufgeteilt oder verteilt wird. Dass vielmehr jeder Mensch zugleich Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Liebe in Verantwortung übt und erfährt.
Burkhard Budde