Moment mal

Weg vom Abgrund

Von Burkhard Budde

Moment mal

Weg vom Abgrund 

Werfen wir gerade einen Blick in einen Abgrund? Ergreift uns ein Schwindel angesichts der vielen Krisen, die alle bisherigen Gewissheiten erschüttern? Zieht uns eine panische Angst vor einer unbekannten Zukunft in ein schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt? Spielt das Leben angesichts zerstörerischer Kräfte mit uns Roulette? Gehören wir bereits zu den Verlierern mit unwiderruflichen Verlusten?

Vor allem die Bilder grenzenloser Brutalität eines verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieges schreien nach Hilfe – nach Stärkung militärischer Verteidigungsmöglichkeiten und politischer Wehrhaftigkeit, um das Völkerrecht, die staatliche Souveränität und territoriale Integrität, wieder herzustellen. Und nach Unterstützung und Solidarität aller freien Länder, die selbst zu Objekten der Einschüchterung und Erpressung oder gar zur Begierde eines imperialen Größenwahns werden können.

Unbeschreibliches Leid, hemmungslose Zerstörung sowie die Toten schreien auch zum Himmel – nach einem Gott, der versprochen hat, seine Schöpfung und sein Ebenbild nicht im Stich zu lassen. Hört dieser Gott nicht das Seufzen der Verzweifelten? Sieht er nicht die Augen voller Tränen? Fühlt er nicht die Gefühle der Opfer? Fehlt dem Allmächtigen die Macht, Tätern, Mittätern, Bewunderern und Duldern des Unrechts das Handwerk zu legen?  Überlässt er der „Krone der Schöpfung“ den Sturz in den tiefen Abgrund von Verbrechen, Lüge, Gier und Tod – aber warum? Ist Gott etwa hilflos, abgestumpft oder gar zynisch, ohnmächtig in seiner „Allmacht“?

Im Glaubensbekenntnis, das Christen im Gottesdienst sprechen, heißt es, dass Christus kommen wird, „zu richten die Lebenden und die Toten.“ Erwarten Christen trotz oder gerade wegen der Abgründe ein göttliches Gericht, indem Gott das letzte Wort spricht? Hoffen sie, dass Gott selbst die Täter zur Verantwortung zieht und die Tränen der Opfer trocknet?

Das christliche Bekenntnis verharmlost nichts, verschleiert nichts, verschweigt nichts. Gott, der zwar seine Geschöpfe und Ebenbilder liebt, ist nicht der „liebe Gott“, der zu allem Ja und Amen sagt. Der mitleidende und selbstleidende Gott ist auch ein richtender Gott, der nach der Verantwortung fragt („Adam, wo bist du?!“). Und der keinen Menschen – auch keinen, dessen Hass stärker ist als die Vernunft – von seiner persönlichen Verantwortung loslässt.

Ein Blick auf diesen Gott kann die dunklen Wartezonen der Klagen, Zweifel, Schmerzen sowie des Schweigens erhellen. Und trotz allem neues Gott- und Grundvertrauen und Hoffnung sowie mutige und besonnene Tatkraft weg vom Abgrund wachsen lassen. 

Burkhard Budde 

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 14.5.2022 in der Kolumne „Moment mal“