Moment mal
Veritas begegnet
Von Burkhard Budde

Wie kann Wahrheitssuche gelingen?
Moment mal
Begegnung mit Veritas
„Ihr Gesicht war strahlend schön. Doch dann verschwand die natürliche Schönheit“, berichtet eine Person und fragt sich: „Werde ich sie jemals so wiedersehen?“ Die Rede ist von Veritas, der römischen Göttin mit deutschem Namen „Wahrheit“, der Schwester der Justitia („Gerechtigkeit“) und der Libertas („Freiheit“).
Der Veritas ungeschminkt zu begegnen, ist nicht einfach. Wenn zum Beispiel in einer Familie über die Leistungen der verstorbenen Mutter gesprochen wird, können die Erinnerungen der Kinder ganz unterschiedlich, auch (scheinbar) widersprüchlich sein. Oder bei Gericht klaffen bei Zeugen eines Erlebnisses nicht selten subjektive Deutungen und objektive Wirklichkeit auseinander. Wer sagt die Wahrheit? Und was ist die Wahrheit?
Ist Veritas eine geschickte Diplomatin, die mit schönen Worten geschmeidig spielen und die wahre Realität verschleiern kann? Trägt sie als eitle Tugendwächterin eine moralische Maske, um ihre Verlogenheit zu verbergen? Prangert sie den Speck an, in dem sie wie eine Made lebt? Oder muss sie als Liebhaberin der Gerechtigkeit und der Freiheit vielleicht sogar die Maske des Anstandes und des Respektes tragen? Weil „nackte Wahrheiten“ – z. B. Verletzungen und Ausgrenzungen, Neid und Frust – sonst nicht zu ertragen und Menschen nicht erreichbar sind? Bietet Veritas Kleid des Scheins vielleicht Schutz vor dem Sein eigener Begierden oder Ängste?
Veritas kann jedoch auch zur Geburtshelferin neuen Lebens werden. Wer sie sucht, ohne zu meinen, sie besitzen zu können, lernt sie ständig neu kennen: Wissen und Erinnern ist immer nur Wissen und Erinnern auf Zeit; auch eigene oder fremde Macht ist begrenzt, endlich und vergänglich; Halbwahrheiten und Selbstgerechtigkeiten trüben den Blick auf die ganze Wirklichkeit, fesseln das Denken und blenden das Sehen; demgegenüber machen Selbstkritik und die Achtung unterschiedlicher Sichtweisen frei, entwicklungs- und gemeinschaftsfähig.
Veritas öffnet zu Weihnachten sogar die Augen für eine geistliche Beziehung, weil sie den Ursachen aller Dinge in der Tiefe des Lebens auf den Grund geht: Durch die Geburt Jesu erscheint Göttlichkeit, die angeborene, unverlierbare und bedingungslose Würde aller Menschen. Und durch das Sterben und die Auferstehung Jesu Christi wird der Glaube an das ewige Leben möglich. Auf dem Mist der Lebenslüge – ohne Gott und den Nächsten leben und lieben zu können – kann dann das Saatgut des Glaubens eine wunderschöne Blüte der befreienden und versöhnenden Wahrheit wachsen und strahlen lassen.
Burkhard Budde
Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe
in der Kolumne „Moment mal“ am 18.12.2021