Moment mal

St.Martin heute

Von Burkhard Budde

 

Das Foto zeigt die Szene der Mantelteilung des Martinaltars aus dem 15. Jahrhundert in der Martinskirche in Spenge (Kreis Herford). Zwei Bettler sind dargestellt; ferner eine Person mit einem Holzbein sowie eine offensichtlich blinde Person. Alle vier Menschen, die auf verschiedene Notlagen hinweisen, erwarten etwas vom Ritter. Im Hintergrund erscheint ein zweiter Ritter, der betet. Offensichtlich ein Hinweis auf die Tat der Nächstenliebe, die im Horizont der Gottesliebe geschieht.

Essay

Ritterliche Verantwortung

St. Martin und die Politik

Wer bist du eigentlich? fragt ein Mensch neugierig den Ritter auf dem Pferd, der ein Schwert in der Hand hält.

Bist du ein Sonderling aus ferner Zeit, weil du deinen Mantel mit einem frierenden Bettler ganz spontan geteilt hast? Und heute eine Lichtgestalt, weil du in sozialer Kälte und menschlicher Herzlosigkeit erhellende und wärmende Zeichen der Solidarität setzt? Oder bist du ein Soldat aus dem 4. Jahrhundert, der später Mönch und dann Bischof von Tours in Frankreich geworden ist, der eine aktuelle Projektionsfläche von Ängsten und Hoffnungen darstellt?

Denn welcher Mensch will schon einem Scheinritter mit einem Heiligenschein begegnen? Und eine Gänsehaut bekommen, wenn dieser Ritter aus Fleisch und Blut sich selbst für etwas Besseres hält, sich zwar im Gewand eines religiösen Wohltäters inszeniert, aber scheinheilig ist? Der von Liebe ständig redet, sie ins Schaufenster stellt, tatsächlich jedoch nur an sich und an sein Geschäftsmodell denkt? Der gerne Mäntel verteilt, die ihm nicht gehören, und dabei seinen eigenen Mantel noch nie in Frage gestellt hat?

Und wer will nicht vor einem aggressiven Raubritter mit Scheuklappen geschützt und verteidigt werden? Vor einem „Ritter“ mit eiskaltem Herz und brutaler Faust, der hilfloses und unschuldiges Leben auslöscht, der Menschen demütigt und in Angst und Schrecken versetzt? Der Gewalt verherrlicht, Gewaltorgien feiert und sich dafür bejubeln lässt? Dessen Hass tief im selbstgerechten und vergifteten Boden fanatischer Verblendung, religiöser Ideologien, feindseligen Neides und versteckten Selbsthasses wurzelt? Aber immer für die „gute und göttliche Sache“ kämpft, wenn Anderslebende und „Ungläubige“ zum Sündenbock gemacht, angegriffen, ausgegrenzt oder rücksichtslos ermordet werden?

Durch das Vorbild Martin von Tours jedoch, an den jährlich am 11. November erinnert wird, können aufgeklärte Menschen und demokratische Rechtsstaaten, die der Würde des Menschen und den Menschenrechten verpflichtet sind, zur klugen und empathischen Wehrhaftigkeit sowie glaubwürdigen Abschreckung und Prävention ermutigt werden.

Martin hat sein Schwert nicht aus der Hand gegeben:

Wenn die Existenz und Souveränität eines Staates auf dem Spiel stehen, ist ein starker Rechtsstaat gefordert, der bei einem Verteidigungskrieg sich im Rahmen von Recht und Gesetz bei Wahrung der Verhältnismäßigkeit des Gewalteinsatzes effektiv zu wehren weiß.

Judenhass, Israelfeindschaft und Antisemitismus sind in Deutschland, wo das Gewaltmonopol gilt, mit dem scharfen Schwert des Rechts zu bekämpfen. Vor allem Bürger, die das Schwert der aufgeklärten und gebildeten Vernunft in die Hand nehmen, kämpfen mitten im Alltag mit Rückgrat und Zivilcourage für gelebte Demokratie statt Theokratie, für das friedliche Austragen von Konflikten nach Regeln statt Austragen von Konflikten nach dem Gesetz des Dschungels, für Gleichberechtigung und Gleichstellung statt Ausgrenzung und Diskriminierung, für historisches Wissen und Lernen, vor allem für historische Verantwortung statt die Pflege von Vorurteilen und Feindbildern.

Martin hat seinen Mantel nicht abgegeben; er hat ihn „nur“ geteilt:

Über seine Möglichkeiten und sein Können hinaus kann keiner – weder ein staatlicher noch ein bürgerlicher Ritter – verpflichtet werden, großzügig und hilfsbereit zu sein. Und es ist sozialpolitisch auch keine Hilfe zur würdevolleren Selbsthilfe, wenn ein Bettler immer abhängiger vom Helfer oder auf Dauer aus einem Ritter ein „Bettler“ wird, weil er keine Mäntel mehr produzieren kann.

Ein kluges und empathisches Teilen des Möglichen, um in einer konkreten Situation die Not zu wenden, ist – jenseits von panischer Angst vor Verlust und schwärmerischem Übermut durch Naivität – ein Ritterschlag christlicher Liebe und Verantwortung vor Gott und dem Nächsten. Er mobilisiert auch humane, solidarische und kritische Gegenkräfte gegen Bosheiten wie Dämonisierungen und Entmenschlichungen, damit ein gerechter und nachhaltiger Frieden in Freiheit und Sicherheit wieder eine Chance erhält.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Wolfenbütteler Schaufenster am 12.11.2023