Moment mal

Das große Fressen

Von Burkhard Budde

Auf ein Wort

Das große Fressen 

Die Raupen auf den Blättern der Bäume schienen nur an das Fressen zu denken. 

Die eine Raupe konnte ihren Hals nicht voll genug bekommen. Gierig fraß sie alles, was ihr als scheinbarer Leckerbissen vor ihre Augen kam. Sie sah immer seltener die Gefahren, aus der Höhe in die Tiefe zu fallen oder von Fressfeinden vernascht zu werden. 

Eine andere Raupe war da schon vorsichtiger. Sie konnte mit ihren stacheligen Haaren auch stechen. Aber wenn es um das große Fressen im Wettlauf um die größten und schmackhaftesten Nahrungsquellen ging, vergaß auch sie jegliche Vorsicht und wurde mutig übermutig. 

Eine Raupe, die prächtig gefärbt und hübsch gestreift war, versteckte geschickt ihre Gier oder fraß Kreide, um durch ihre Nettigkeit Vorteile zu ergattern und ihren ständigen Heißhunger stillen zu können. Auch verstand sie es, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen und die Harmlose zu spielen, um nicht am Ende die Dumme zu sein und ins Leere schauen zu müssen. 

Eine Raupe drang sogar in eine Rose ein, die unter einem Baum wuchs, vereinte sich mit ihr, um sie zu zerstören. Ob ihr Handeln an ihrer Gefräßigkeit lag? Oder weil sie den betörenden Duft nicht mehr riechen und die dauerhafte Schönheit der Blumenkönigin nicht länger ertragen konnte? 

Aber es gab auch Raupen, die zwar beim Fressen kräftig zulangten, um zu überleben, jedoch gleichzeitig Schlupflöcher des Anstands und der Fairness suchten. Ihr Ziel war es, sich erfolgreich in einen Kokon aus selbst gesponnener Seide zu verpuppen. 

Auch kleine, unscheinbare und angepasste Raupen mussten auf den Blättern ihrer Lebensgrundlage ständig auf der Hut sein, als Fressende nicht spektakulär gefressen zu werden. Übertriebene Sorgen und Ängste konnten den Blick in die Vielfalt und Vielzahl der Blätter und Möglichkeiten verbauen. 

Irgendwie waren alle Raupen – ob als faszinierende Augenweide, körperliches Wrack oder einfach nur Überlebenskünstler – potenzielle Opfer ihres gefräßigen Lebens. 

Nur wenige Raupen dachten vom Ende her: „Besteht unser Leben nur aus Fressen oder Gefressen werden? Sind wir Gefangene unserer Gier oder unserer Ängste, das Leben zu verpassen?“

Es gab Raupen, die innehielten und neugierig nachdachten: Ob sie weiterleben? Als ein anderes Tier, eine Pflanze, in einer anderen Raupe? In einem Raupenparadies oder in einem Raupenschlafsaal? 

Sollte ihr Leben in den ewigen Kreislauf der Natur mit Werden und Vergehen zurückkehren? Oder würde ihr Leben im Nichts spurenloser Anonymität und des absoluten Vergessens verschwinden? 

Während diese Raupen hin- und herüberlegten, ohne das Fressen zu unterbrechen, flatterte ein hübscher  Schmetterling mit „Augen“ an ihnen vorbei, überquerte den benachbarten Sumpf mit einer ernsten Leichtigkeit und besuchte einladende Sonnenblumen. Und manche Raupen sehnten sich danach, so wie ein glücklicher Schmetterling zu werden. Oder in einen solchen oder ähnlichen Schmetterling eines Tages verwandelt zu werden.

Burkhard Budde