Auf ein Wort

Schlüsselwort Nächstenliebe

Von Burkhard Budde

Auf ein Wort

Schlüsselwort Nächstenliebe 

Tief in ihrem Herzen verspüren viele Menschen die Sehnsucht nach Liebe. Ohne Liebe würde ihnen etwas Wichtiges fehlen; sie würden nicht wirklich existieren können. Das fängt an, wenn ein neuer Erdenbürger das Licht der Welt erblickt. Denn keiner ist einfach vom Himmel gefallen, aus dem Hut gezaubert oder vom Klapperstorch gebracht worden. Keiner hat sich selbst sein Leben, das er hier und heute und nicht an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit erfährt, gegeben oder geschenkt. Erster Türöffner beim Betreten des sichtbaren Lebensraumes war bei der Geburt die Bejahung und Hilfsbereitschaft durch die Mutter, die Eltern oder einer anderen Person.

Aber ist Liebe nicht mehr als eine Geburtshilfe, die einen Menschen bedingungslos bejaht und ein Leben in sozialer Gemeinschaft ermöglicht?

Christliche Kirchen, die Diakonie und Caritas, sprechen von „Nächstenliebe“, wenn sie Menschen in Not ihre Hilfe und Beratung anbieten, am Anfang, in der Mitte und am Ende ihres Lebens? Fasst das bekannte Schlüsselwort nur ein schönes Programm zusammen, das ins Schaufenster gestellt wird – wie Parteien ihre Wahlprogramme oder Unternehmen ihre Leitbilder in die Öffentlichkeit tragen, um zukünftige Wähler zu gewinnen oder neue Mitarbeiter zu überzeugen? Ist es ein Containerwort – jeder füllt es mit anderen Bedeutungen? Oder ist es nur eine zauberhafte Seifenblase, die beim Zusammenstoß mit der rauhen Wirklichkeit platzt?

Eine Wurzel christlicher Nächstenliebe befindet sich in der Bibel. Die Beispielerzählung vom „barmherzigen Samariter“ (Lk 10, 25ff) ist das klassische Leitbild und Vorbild der Nächstenliebe. Jesus erzählt diese Geschichte einem Schriftgelehrten, der beim Thema Liebe nicht locker ließ, weil er bei seiner Frage an Jesus „Wer ist denn mein Nächster?“ wohl den Begriff „Nächster“ gerne definiert gehabt hätte – nach dem Motto „Mein Gesinnungsfreund oder Landsmann ist mein Nächster“.

Die Geschichte jedoch, die von einem Menschen berichtet, der unter die Räuber gefallen war, macht deutlich, dass jeder Mensch in Not geraten und zum Nächsten werden kann, da jedes Leben zerbrechlich und gefährdet ist. Dass es Gottesliebe nicht ohne sehende und achtsame Nächstenliebe gibt, die Herz zeigt, was ein Tempeldiener und ein Priester hätten erkennen müssen, die jedoch den Notleidenden links liegen ließen. Dass auch Nächstenliebe ohne religiöse Begründung möglich ist, da sie bedingungslos und unabhängig von einer Religion oder einer Herkunft geschieht. Dass spontane und konkrete Nächstenliebe nicht naiv oder schwärmerisch ist, sondern es sehr vernünftig sein kann, nach erster und freiwilliger Hilfe die Hilfe von Profis – in der Geschichte der Wirt in der Herberge – in Anspruch zu nehmen, damit der Betroffene wieder auf die Beine kommen kann, um eigenverantwortlich zu leben. Stets geht es Jesus offensichtlich um Eigenverantwortung, das Mögliche im Nötigen zu tun – in der Grundhaltung der Barmherzigkeit, die in der Gottesliebe in besonderer Weise aufleuchtet: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, so Jesus (Mt 25,40). Aber wie bei der Geburt und sonst im Leben gilt: Im Zweifel – unabhängig von der Konfession – für die Liebe in Barmherzigkeit und Verantwortung.

Burkhard Budde