Auf ein Wort
Suche gute Tugend: Mäßigung
Von Burkhard Budde

Auf ein Wort
Suche gute Tugend: Mäßigung
Ist die alte Tugend Mäßigung heute noch alltags- und lebenstauglich? Oder haben die Maßlosen das Sagen? Möglichst alles erleben und sehen, alles genießen und konsumieren, auch wenn – oder gerade weil – die Lebenszeit begrenzt, vergänglich und zerbrechlich ist und man nicht an ein neues Leben nach dem Tod glaubt? Möglichst – zum Beispiel bei Erbstreitereien – den Hals nicht voll genug bekommen und jeden Cent aufrechnen? Möglichst – bei Nachbarschaftskonflikten – mit Kanonen auf Spatzen schießen und Öl ins Feuer der Gefühle gießen? Möglichst – im politischen Geschäft – keinen Millimeter von Maximalforderungen abweichen und mit dem Kopf durch die Wand gehen wollen? Möglichst – im Berufsleben – sich selbst durch Intrigen und Fake-News ins rechte Licht rücken, andere abwerten, um sich selbst aufzuwerten?
Sind die geltungs-, macht- und profitsüchtigen Maßlosen zum alleinigen Maß aller Dinge geworden?
Viele Beispiele – siehe oben – erinnern an die gefräßige Raupe „Nimmersatt“, die sich gierig, eitel und hemmungslos durchs Leben frisst.
Maßlosigkeit betrifft jedoch nicht nur die maßlos Hungrigen, die nach immer mehr Haben oder mehr Sein jagen und keine Grenzen, sondern nur ihren Speiseplan und sich selbst kennen. Und auch nicht nur den freundlichen Sparfuchs, der stets auf Schnäppchenjagd ist, nicht teilen und großzügig sein kann. Oder nur den Luxuslöwen, der im Rausch nur exklusive Dinge wahrnimmt und verschwenderisch ist, das Geld verantwortungslos aus dem Fenster wirft.
Ein Leben ohne Maß führt auch der Gleichgültige und Oberflächliche, der sich wie der Koala–Bär „Immersatt“ – ohne ihm persönlich Unrecht tun zu wollen – selbstgefällig und selbstgenügsam verhält. Was kümmert ihn sein Nächster, seine Mitwelt und Nachwelt? Hauptsache, wohlgenährt und zufrieden sein, seine Ruhe in den eigenen vier Wänden haben, schlafen und fressen können!
Alle, vor allem die Nimmersatten und Immersatten, verweigern die Suche nach der Goldenen Mitte. Sie sind wie Betrunkene, die sich zwar in der Nacht an der Laterne der Klugheit festhalten, aber keine neuen Erkenntnisse, sondern nur Halt suchen, um nicht auf die Nase zu fallen. Ein gieriges und selbstgefälliges Ich ist wie ein durchgehendes Pferd, das keine Rücksicht auf Richtung und Sicherheit des Reiters nimmt. Es muss deshalb vom Reiter gezügelt werden – durch die Gegenkraft der Mäßigung, mit Hilfe empathischer, aber eindeutiger Führung in Würde und Vernunft. Die negativen Kräfte – ungezügelte Instinkte und Triebe, Bedürfnisse und Interessen – sollten nicht unterschätzt oder negiert, sondern in die richtige Richtung gelenkt werden:
Wer maßvoll und kritisch argumentiert, nicht pauschaliert oder dämonisiert, erreicht mehr als zum Beispiel ein Übermaß an Übertreibungen, das verdächtigt macht, Misstrauen weckt und die Glaubwürdigkeit auf Dauer zerstört. Alle Mittel helfen nichts, wenn die Mitte fehlt, die es sich leisten kann, auf nachvollziehbare Fakten und überzeugende Argumente zu hören sowie sachlich und differenziert abzuwägen und tragfähige Kompromisse zu suchen– wie ein freies und souveränes Ich, dass zugleich Tapferkeit, Klugheit und Gerechtigkeit mit der Tugend der Mäßigung verbindet.
Burkhard Budde