Land und Leute

Liebenburg – Ort mit Fingerzeig

Von Burkhard Budde

Liebenburg - Blick vom Burgberg

Liebenburg – Blick vom Burgberg

Im Harzvorland zwischen Goslar und Salz­gitter sowie in der Nähe von Wolfen­büttel gibt es einen kleinen beschau­lichen Ort, der jedoch Nieder­sachsen­geschichte ge­schrie­ben hat. Die Rede ist von der Gemeinde Lieben­burg mit einem Schloss, das der Fürst­bischof Clemens August von Hildes­heim (1700 bis 1761) ab 1754 als barockes Jagd- und Som­mer­schloss errichten ließ und zu dem eine Barock­kirche gehört.

Zuvor stand auf dem Burg­berg die „Lewen­burg“, die der Bischof Siegfried der II von Hildes­heim 1292 bauen ließ, um sein Bistum gegen die Herzöge von Braun­schweig und Wolfen­büttel zu schützen.

Die damals stärkste Burg im Harz­vorland erlebte verschie­dene Herr­schaften – neben den Hildes­heimer Bischöfen den Herzog Heinrich den Jüngeren von Braun­schweig-Wolfen­büttel, der auf der Burg seine Geliebte Eva von Trott in den Jahren 1541 bis 1542 ver­steckte, aber auch im Dreißig­jährigen Krieg die Feld­herren Wallen­stein und Tilly, die die Burg längere Zeit als Haupt­quartier nutzten.

Gegen Ende des 17. Jahr­hunderts zerfiel die Burg­anlage immer mehr; heute sind noch drei ehemalige Wehr­türme zu sehen sowie einige Burg­mauern und ein alter Burggang.

Hausmannsturm - Aussichtsturm im Harzvorland

Hausmannsturm – Aussichtsturm im Harzvorland

In der Schlosskirche Liebenburg

In der Schlosskirche Liebenburg

Als einer der schönsten Aussichts­türme des nördlichen Harz­vor­landes gilt der Haus­manns­turm mit Blick auf den Brocken.

Auch wegen der Schloss­kirche lohnt sich ein Besuch Lieben­burgs. Der Barock­maler Joseph Gregor Wink, 1710 in Deggen­dorf in Nieder­bayern geboren und 1781 in Hildesheim gestorben, hat die Schlosskapelle 1758 mit Fresken – u.a. Episoden aus dem Leben des Heili­gen Clemens, der von 88 bis 97 nach Christi Papst von Rom war – so plastisch und präzise sowie farben­prächtig und leiden­schaft­lich glühend gestaltet, dass sie zum Staunen Anlass gibt. Es existiert wohl kein weiterer Fresken­maler dieser Qualität in der nord­deutschen Kunst­szene des 18. Jahr­hunderts.

Die Schlosskirche „Mariä Ver­kündi­gung“ ist heute zu­gleich katho­lische Pfarr­kirche, wird litur­gisch genutzt und atmet wie im 18. Jahr­hun­dert die beson­dere Nähe des Himmels auf Erden.

Fresko-Detail in der Schlosskirche Liebenburg

Fresko-Detail in der Schlosskirche Liebenburg

Eine weitere Rarität im erlebbar spirituellen Kontext sind die Werke des Malers und Grafikers Gerd Winner, der 1974 das Schloss Liebenburg als Wohn- und Künstler­haus erworben hat, nachdem es 17 Jahre lang leer gestanden hatte. Als Gerichts­gebäude mit Gefängnis­zellen diente das Schloss bis zur Mitte des 20. Jahr­hunderts. Nun wirkt der Ehren­bürger von Liebenburg in Liebenburg und darüber hinaus.

Seine Biografie – er ist Zeitzeuge des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges in Europa – erzählt spannende Geschichten.

Er gehört mit seinen viel­fältigen Werken bereits zur Kunst­geschichte u.a. mit seinen Grafikzyklen „London Transport“. „London Docks“, „Roadmarks“, „New York Times Square“.

Aber auch – gemein­sam mit seiner 1998 verstor­benen Frau Ingema Reuter – mit dem „Haus der Stille“ als begeh­baren Raum zur Medi­tation und Reflexion auf dem Gelände des ehema­ligen Konzen­trations­lagers Bergen-Belsen 1997; das „Haus der Stille“ wurde im Jahr 2000 zur Welt­ausstellung übergeben.

Gerd Winner - Maler und Grafiker

Gerd Winner – Maler, Grafiker und Schlossherr

In Braunschweig – hier 1936 geboren und zur Schule gegangen, besonders geprägt durch die Zerstörung der Heimat­stadt 1944 – fand er in seinem Kunst­lehrer Gottlieb Mordmüller ein Vorbild sowie einen Förderer.

Von 1956 bis 1962 studierte er an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin bei Prof. Werner Volkert, wo er „hautnah“ den Kalten Krieg erlebte; anschließend war er freier Maler und Graphiker.

In London lernte er die Sieb­druck­technik kennen; während eines Arbeits­aufenthaltes entstanden hier die Sieb­druck­serien bzw. die Grafik­zyklen.

In der Stadt Heinrichs des Löwen, wo ein Atelier für Sieb­druck aufgebaut wurde, begann die Zusam­men­arbeit mit dem Sieb­drucker Hajo Schulpius.

1972 erhielt Winner einen Lehr­auftrag an der Münchner Kunst­akademie; 1975 einen Ruf als Professor für Malerei und Graphik. 1974 hatte er das Schloss Liebenburg vom Land Nieder­sachsen erworben, um eine Sieb­druckwerk­statt sowie sein Atelier aufzu­bauen.

Das Pendeln zwischen seinen Arbeits­plätzen in Berlin und London sowie die Fahrten durch den „Korridor“ von Berlin in den Westen war auch wegen der Schikanen der DDR-Grenz­behörden immer schwieriger geworden.

Gerd Winner vor seinem Schloss

Künstler Gerd Winner vor seinem Schloss

Die Liebenburg wurde für ihn ein „Ruhe­pol“ bzw. eine „Flucht­burg“ und die Lieben­burger Natur „Inspirations­quelle“, wenn er mehrere Wochen in New York gear­beitet hatte, und eine beson­dere „Wirkstätte“ gemeinsam mit dem Sieb­drucker, wenn in München die vorlesungs­freie Zeit begonnen hatte, obwohl der Künstler auf die Metropolen als „geistige Quellen für Kreativität“ nicht verzichten möchte.

Vor allem jedoch, so Gerd Winner im Gespräch, sei Religion eine „perma­nente Urkraft“ – wich­tig für sein Wirken. Auch stehen Martina Winner, mit der er seit 1999 verheiratet ist sowie der Sohn Marian Maximilian, in der geschichts­orientierten, künstler­ischen und spirituellen Tradition des anerkannten Künstlers.

Die Stahl­skulpturen Winners, die seit 2009 im Schloss­park zu sehen sind, haben ihre Basis – ohne Sockel – direkt in der Natur. Und frisches, wachsen­des Gras wird als Zeichen neuen Lebens sichtbar; das Material schafft die Ver­bin­dung zur Arbeits­welt. Vor allem jedoch sind es die nach oben gerichtete „Pfeile“, die als Symbol der Aufer­stehung verstanden werden können.

Gerd Winner - Pfeilskulpturen

Gerd Winner – Pfeilskulpturen als Symbol der Auferstehung

Oder eine kreis­förmige Boden­skulptur, die ein vier­teiliges Laby­rinth zeigt, kann auf die vier Lebens­phasen sowie auf die vier Evangelien, auf den „existen­tiellen Weg zu Gott“ (Winner) hinweisen. Darüber hinaus stehen die Skulpturen im Zusammen­hang mit der inter­nationalen Straße des Friedens von Paris nach Moskau und haben damit auch eine über­regionale Bedeutung.

Oder in der stählernen „Himmels­scheibe“ am Hang des Parks – der auf­gehen­den Sonne entgegen­gerichtet – durch­dringen sich in abstrakter Form Alpha und Omega, Zeichen von Anfang und Ende, so Winner, aber wohl auch von ewigem Leben, eine Hoffnung auf Neu­anfänge ohne Ende – durch Gott und zu ihm hin.

Labyrinth von Gerd Winner
Labyrinth – kreisförmige Boden­skulptur von Gerd Winner

Und seine Zeichnungen? In mehr­schichtigen Reflektionen und Durch­dringungen, erläutert Gerd Winner, verschmelzen die persönlichen Eindrücke und Erlebnisse mit den Folgen des Leidens. Und „in der Summe richten sich meine Anfragen zur Passion der Menschen direkt und indirekt an die Passion Christi“, gibt der Künstler zu bedenken.

Winner-Kunst mit religiösen Perspektiven gibt an vielen Orten – in Braunschweig (z.B. in den Dominikaner Kirchen St. Albertus Magnus), Salzgitter-Bad („Jakobsleiter“, „Schwerter zu Pflugscharen“), Wolfenbüttel („Turm der Technik“) und darüber hinaus.

Gerd Winner und Burkhard Budde

Gerd Winner und Burkhard Budde vor dem Bild „Christuskopf“

Im Jahr 2002 gestaltete Gerd Winner den „Christuskopf“ an der Stirn­seite des Alten­pflege­heimes Bethanien in Braun­schweig. „Wir haben vorher darüber gesprochen“, erinnert sich der Künstler im Gespräch mit dem Verfasser dieses Artikels, der ihn damals mit dem Vorstand in Lieben­burg besucht hatte.

Es sollte kein abstraktes Kunstwerk entstehen, sondern eines, das die Menschen mitnimmt, dass sie neu und persönlich anrührt, menschlich zu bleiben und in Bewegung versetzt. Damit in dem Haus der Diakonie christliche Nächsten­liebe erfahrbar bleibt, mutige Schritt­macher der Liebe gestärkt werden sowie Spuren des Göttlichen und letzte Geborgen­heit entdeckt werden können.

Winners verstorbene Frau Ingema Reuter hatte einen Entwurf des Christuskopfes angefertigt. Und Gerd Winner hat das Kunstwerk „posthum“ technisch, aber auch als „geistliches Programm“ vollendet.

Doch die Fragen an den Schmerzensmann, der mit seinem Geist der schöpferischen Liebe neues Vertrauen und Hoff­nung schenken möchte, bleiben. Und der Betrachter muss die Botschaft angesichts von Konflikten und anderen He­raus­forderungen immer wieder neu ent­schlüsseln. Und der Künstler kann mit seiner Kunst dabei helfen – ohne pä­dago­gischen Zeige­finger, wohl aber mit spirituellem Finger­zeig.

(Veröffentlicht auch im Wolfen­bütteler Schau­fenster am 18.10.2020)