Land und Leute

Königslutter – Brunnen der Geschichte

Von Burkhard Budde

Königslutter am Nordrand des Elms

Die Kleinstadt Königslutter am Nordrand des Elms ist das Tor zum Naturpark Elm-Lappwald.

Gesteinssammlung im Geopark-Informationszentrum in Königslutter
Gesteinssammlung im Geopark-Informations­zentrum in Königslutter

Ein Blick lohnt sich: Kein flüchtiger, auf keinen Fall ein böser, auch kein gleich­gültiger oder über­heblicher. Aber ein neu­gieriger und kritischer Blick in wunder­bare Brunnen span­nender Geschichte und Geschichten ermöglicht immer wieder neue Ent­deckungen in der Tiefe des Lebens, die man nicht so schnell vergisst.

Die Kleinstadt Königslutter, die am Nordrand des Elms liegt und das Tor zum Naturpark „Elm-Lappwald“ ist, bietet solche Brunnen­erlebnisse.

Da ist zum Beispiel der Brunnen der Erd- und Natur­geschichte:

Ingrid Ehrlichmann, ehrenamtliche Munseumsmitarbeiterin

Ingrid Ehrlichmann, ehrenamtliche Mitarbeiterin des Museums im Geopark-Infozentrum

Im Geopark-Informationszentrum An der Stadtkirche 1 in Königslutter befindet sich eine Gesteins­sammlung, die „stein­reich“ ist. Der Kauf­mann Otto Klages, gestorben 1982, hat sie – über zwei­tausend „erzäh­lende Steine“ – 1972 seiner Vater­stadt Königs­lutter über­geben. Aus tiefer Ehr­furcht vor dem Leben, das Jahr­millionen im Kern der ver­steinerten Kruste einge­schlossen war, sammelte Klages leiden­schaftlich Fossilien, Steine und Mineralien.

Vor allem in der Landschaft zwischen dem Harz und dem Flechtinger Höhen­zug wurde er fündig. Aus der Tiefe dieses „Brunnens“ konnte so die Vielfalt des Lebens vergan­gener Zeiten – 290 Millionen Jahre Erd­geschichte – das Licht der Gegen­wart erblicken.

Ingrid Ehrlichmann, seit 10 Jahren ehren­amtliche Mitarbei­te­rin dieses Museums, das gleich­zeitig das Eingangs­portal zum UNESCO Geopark Harz – Braunschweiger Land – Ostfalen ist, weiß, dass es kaum ein vergleich­bares Gebiet in Europa gibt.

„Die Gegend ist einmalig. Die gesamte Erd­geschichte liegt vor den Füßen. Wir leben in dieser Region auf einem Schatz“, sagt die Natur­lieb­haberin mit leuch­tenden Augen. Durch Salz­aufstieg im Unter­grund sowie durch Meeres­vorstöße sei eine einzig­artige Land­schaft ent­standen. Und ihr Lieblings­berg? Frau Ehrlich­mann muss nicht lange nach­denken: „Das Natur­schutz­gebiet Heese­berg bei Jerxheim im Land­kreis Helmstedt mit den Stein­brüchen, den Adonis­röschen und der Hünenburg bei Watenstedt.“

Und bei diesem Lebens­raum kann man sich vorstellen, dass Homo erectus und Homo sapiens – über­haupt die Vor­fahren der Menschen aus der Steinzeit – ihre Spuren hinter­lassen haben, etwa bei Salzgitter-Lebenstedt (50 000 Jahre altes Jäger­lager der Neandertaler) oder bei Schöningen / Paläon 1 (Speere aus der Zeit vor 300 000 Jahren).

Ein weiteres Beispiel ist der Brunnen der Kultur- und Musik­geschichte:

Britta Edelmann, Leiterin im Museum Mechanischer Musikinstrumente

Britta Edelmann – Museumsleiterin im Museum Mechanischer Musikinstrumente

Britta Edelmann (vorn) und Anna Dziatzka

Museumsleiterin Britta Edelmann (vorn) und die studentische Aushilfe Anna Dziatzka

Im Museum Mechanischer Musik­instrumente (MMM) Vor dem Kaiserdom 3-5 arbeitet seit 2004 Britta Edelmann als Museums­leiterin.

Die Sammlung von internatio­nalem Rang informiert über 250 Jahre Geschichte mechanischer Musik­instrumente bzw. über ihre kultur­geschicht­liche und technische Entwicklung.

Stolz berichtet Frau Edelmann, dass alle etwa 235 Instru­mente – darunter eine Spiel­uhr, die die Größe eines 1 Cent-Stückes hat und eine Karussell­orgel mit einer Größe von 3 x 4 Metern – „funktio­nieren und mit dem Klang vergan­gener Jahr­hunderte die Ohren des Besuchers zum Besuch in eine fremde Musik­welt einladen.“

Im ausgehenden 18. Jahrhundert ließen Adel und vermö­gendes Bürger­tum sich vor allem durch Flöten­uhren unter­halten.

In bürgerliche Wohnzimmer kamen kleine Walzen­spiel­dosen, Tisch­dreh­orgeln sowie erste elektri­sche Klaviere zum Einsatz.

In privaten Salons und Vergnügungs­etablisse­ments waren Orchestrien beliebt, die ein ganzes Orchester zu imitieren versuchten. Und auf Jahr­märkten im 19. Jahr­hundert hörte man Leier­kästen bzw. Dreh­orgeln.

Auch die studentische Aushilfe im Museum, Anna Dziatzka (27), ist begeistert von der musealen Präsentation: „Große und kleine Ohren lernen, neu zu hören, die alte Zeit ohne Musik­knopf im Ohr besser zu verstehen und die Gegen­wart bewusster zu erleben“.

Der Regionalhistoriker Manfred Gruner aus Bad Harzburg erinnert an den Braun­schweiger Kaufmann Jens Carlson, dem das Museum die einma­lige Samm­lung zu verdanken hat. Der hatte zunächst Kauf­ange­bote aus Japan und den USA sowie aus Braun­schweig, akzeptierte jedoch schließlich das Ange­bot aus Königs­lutter, um die ehemalige Wasser­mühle neben dem Kaiser­dom zur neuen Heimat der Expo­nate zu machen.

Ein weiteres unver­wechsel­bares Beispiel ist der Brunnen der Stadt- und Kirchen­geschichte:

Der Kaiserdom in Königslutter

Der Kaiserdom – eigentlich die Stiftskirche St. Peter und Paul – in Königslutter

Kaiser Lothar III auf einem Wandbild im Kaiserdom

Kaiser Lothar III auf einem Wandbild im Kaiserdom in Königslutter

Der Kaiserdom – eigentlich die Stifts­kirche St. Peter und Paul – gehört zu den bedeu­tendsten Bauwerken der Romanik in Deutschland.

1135 stiftete Lothar von Süpplingen­burg – Herzog von Sachsen, 1125 König, 1133 Kaiser – ein Bene­diktiner­kloster mit der Kloster­kirche St. Peter und Paul als Grablege für sich und seine Familie sowie als Zeichen seiner Macht im Quell­gebiet der Lutter. Als Lothar III zwei Jahre später starb, wurde er in einer unvoll­endeten Kirche beigesetzt.

Erst um 1170 wurde der Bau unter seinem Enkel Heinrich dem Löwen fertig­gestellt. Vor allem der nördliche Teil der klassischen roma­nischen bzw. kreuz­förmigen Pfeiler­basilika mit seinen zehn Säulen, die ganz unter­schiedlich gestaltet sind, gehört zu den Besonder­heiten in Nord­deutschland.

Und welche Überraschungen kann der Besucher beim Blick in diesen „Brunnen“ noch erleben?

Im Rahmen dieses Artikels können nur einzelne Entdeckungen geschildert werden:

Das Löwenportal - Hauptzugang in den Kaiserdom

Das Löwenportal ist der Hauptzugang in den Kaiserdom.

Beim Blick auf das „Löwenportal“, dem Hauptzugang in die Kirche, fallen die reich verzierten Säulen auf, aber auch zwei Löwen; der linke mit einem menschlichen Opfer, das er fest in seinen Pranken hält; der rechte mit einem Widder, den er scheinbar schützt oder „nur“ festhält. Der König der Tiere – hier ein Symbol für brutale Macht oder für empathische Fürsorge?

Beim Blick auf den „Jagdfries“, eine 1135 von Steinmetzen aus Oberitalien aus der Schule des Baumeisters Nikolaus von Verona gestaltete Bildfolge an der Außenseite des Kaiserdoms, die den Kampf der Jäger mit den Hasen zeigt, fällt besonders die Szene in der Mitte der Apsis auf:

Zwei Hasen, die grimmig blicken, fesseln den Jäger, der eben noch den erlegten Hasen am Stock davon trug.

Verdrehte Rollen? Wird der Jäger zum Gejagten, der Gejagte zum Jäger? Kann die Jagd nach Macht, Geld und Ruhm im Spannungsfeld von Himmel, Erde und Unterwelt überhaupt vom „gefesselten“ Menschen gewonnen werden? Gibt es Scheinsiege der starken Schwachen oder der schwachen Starken? Siegt am Ende der „Teufel“ in den Hasen oder der „Löwe von Juda“, Christus?

Es bleibt eine rätselhafte Symbolik, die jedoch die Phantasie beflügelt.

Der Jagdfries - Bildfolge an der Außenseite des Kaiserdoms

Der Jagdfries – Bildfolge an der Außenseite des Kaiserdoms

Zwei Hasen fesseln den Jäger

Zwei Hasen fesseln den Jäger – Szene in der Mitte der Apsis

Liegefiguren der Kaiserlichen Grablege im Kauserdom Königslutter

Liegefiguren der Kaiserlichen Grablege im Kaiserdom Königslutter

Beim Blick auf die „Kaiserliche Grablege“, die mit ihrer barocken Grab­platte aus dem Jahr 1708 bzw. mit ihren Liege­figuren an Kaiser Lothar III (gest. 1137), an seinen Schwieger­sohn Herzog Heinrich den Stolzen (gest. 1139) und an die Kaiser­gemahlin Richenza (gest. 1141) erinnert, fallen die Herr­schafts­zeichen wie Reichs­apfel, Zepter und Krone auf.

Und erinnern damit auch an die ehrgeizigen und unbedingten Macht­ansprüche einer vergangenen Zeit, in der es keine Demokratie oder Mensch­rechte gab, wohl aber viel Pionier­geist sowie einen von der Frömmig­keit geprägten Willen, Macht zu erhalten und zu vermehren, um sich im Brunnen der Geschichte zu verewigen, obwohl alles vergäng­lich und endlich ist und bleibt.

Kaisergemahlin Richenza auf einem Wandbild im Kaiserdom

Kaisergemahlin Richenza auf einem Wandbild im Kaiserdom in Königslutter

Kaiser-Lothar-Linde auf dem ehemaligen Klosterhof

Die Kaiser-Lothar-Linde auf dem ehemaligen Klosterhof

Klosterhof in Königslutter mit Kaiser-Lothar-Linde

Klosterhof in Königslutter mit Kaiser-Lothar-Linde

Beim Blick auf die „Kaiser-Lothar-Linde“, die auf dem Gelände des ehemaligen Kloster­hofes – heute des AWO Psychiatrie­zentrums – steht und ein geschätztes Alter von 800 bis 1000 Jahren hat – vielleicht auch von Kaiser Lothar bei der Grund­stein­legung der Kirche selbst gepflanzt worden ist – fallen der Stamm­umfang von fast 13 Metern sowie die Krone mit einem Durch­messer von 30 Metern auf.

Die Sommer­linde ist trotz des Alters „vital, kräftig im Wuchs und verzeichnet einen jähr­lichen Kronen­zuwachs“, wie der Land­kreis über das „einzig­artige Natur­denkmal“ schreibt.

Weckt dieser Lebens­baum nicht Ehr­furcht vor dem Alter, vor der Natur, vor dem Leben als Teil der Natur? Anlass zum Staunen und dem Schöpfer auf die Spur zu kommen?

Das Mahnmal „Weg der Besinnung“

Das Mahnmal „Weg der Besinnung“ im Berggarten westlich des Kaiserdoms

Beim Blick auf das Mahnmal „Weg der Besinnung“, das im Berg­garten westlich des Kaiser­doms zu sehen ist und im Jahr 2002 vom Königs­lutteraner Bild­hauer Günter Dittmann ge­schaf­fen wurde, fällt es dem aufmerk­samen Besucher wie Schuppen von den Augen: Das Mahn­mal soll nicht nur an die „Euthanasie“- Maß­nahmen während der NS-Diktatur erin­nern, bei den zwischen 1939 und 1945 mindestens 130.000 Kinder und Erwachsene ermordet wurden.

Es soll die Verantwortung wecken, nie wieder wegzuschauen oder mitzuwirken, wenn wie ab 1934 in den damaligen Neuerkeröder Anstalten und in der damaligen Landes-Heil- und Pfleganstalt Königslutter kranke Menschen umgebracht wurden: „Wir wollen hinschauen, wenn Unrecht geschieht und uns einmischen.“ Ein Appell an die Menschlichkeit und Würde, der eine bleibende Bedeutung behält.

Der Markt als Zentrum der Stadt Königslutter

Der Markt als Zentrum der Stadt Königslutter mit Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert

Fernab vom Trubel, von der Hektik und der Lautstärke kann man in Königslutter in viele „Brunnen“ schauen.

Manfred Gruner nennt u.a. noch das dreigeschossige „Leidenfrosthaus“ mit zweigeschossigem mittigen Erkern auf hohen Säulen dem Jahr 1674, den Markt als Zentrum der Stadt mit Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert oder die Pfarrkirche St. Sebastian und St. Fabian hinter den beiden Rathäusern.

Brunnen können verschüttet, vergessen, versteckt oder ignoriert werden. Wunderbare Brunnen jedoch, die viel zu erzählen wissen, sind nicht nur ideale Orte der Stille, Treff­punkte von Gemein­schaften, sondern auch sprudelnde Quellen, aus denen neue Erkennt­nisse und Ein­sichten sowie Erfahr­ungen geschöpft werden können. Und wer tief genug in die Tiefe eines solchen Brunnen blickt und geistig bohrt, kann sogar sich selbst, vielleicht auch neuen Lebens­sinn entdecken.

(veröffentlicht auch im Wolfenbütteler Schaufenster am 4.10.2020)

Das Rathaus am Markt in Königslutter

Das Rathaus am Markt im Zentrum der Stadt Königslutter