Auf ein Wort
Kerzen fangen Feuer
Von Burkhard Budde
Auf ein Wort
Kerzen fangen Feuer
Drei Kerzen, die nicht brennen, unterhalten sich.
Die erste Kerze sagt: „Ich werde die Höfliche genannt. Von meinen Eltern bin ich erzogen worden, auf die passende Kleidung zu achten, vor allem jedoch Benimmregeln einzuhalten wie „Danke“ und „Bitte“ zu sagen oder Älteren die Tür aufzuhalten.“ Überhaupt habe sie im Laufe ihres Lebens Form- und Taktgefühl entwickelt. Rücksicht auf andere zu nehmen sei zu ihrer zweiten Natur geworden. „Was man tut oder nicht tut“ – das Wissen darum gehöre zum besonderen Erbe ihrer Eltern.
Die zweite Kerze berichtet stolz. „Und mich nennt man die Freundliche“. Das Lächeln sei die erste Brücke zum Mitmenschen, auf der sie schnell einen Zugang selbst zu fremden Menschen bekomme. Lächeln reiche jedoch nicht aus und ein Münzautomatenlächeln schrecke sogar ab. Vielmehr gehöre zur Freundlichkeit das erlebbare Gefühl des Gegenübers, dass ich es gut mit ihm meine, ihn wohlwollend sehe, ihn zu verstehen versuche und vor allem ihm gegenüber Respekt zeige.
Die dritte Kerze wirkt etwas traurig: „Viele erleben mich als die Ehrliche. Weil ich kein Blatt vor den Mund nehme und versuche, immer die Wahrheit zu sagen, wissen alle, woran sie bei mir sind. Und viele schenken mir deshalb Vertrauen“. Doch sie werde auch schnell missverstanden, als sei sie naiv und als könne man ihr das Blaue vom Himmel erzählen. Dennoch bleibe sie bei ihrer ehrlichen Haltung, die früh zu ihrer zweiten Haut geworden sei und die sie nicht einfach abstreifen könne und wolle.
Allerdings verspüren alle drei Kerzen, dass ihnen etwas Wesentliches fehlt. „Sollen wir nicht Freunde werden“, fragt die Ehrliche. „Wir können uns optimal ergänzen“. Und sie beschließen, Freundschaft zu schließen. Und ihre Herzen schlagen Purzelbäume und vereinen sich. Doch sind sie jetzt wirklich glücklich? Fehlt ihnen nicht immer noch etwas – Größeres und Wichtigeres?
Die drei befreundeten Kerzen begegnen einer vierten Kerze. Sie leuchtet still, nicht laut, nicht vorlaut; auch blendet und täuscht sie nicht. Mal flackert sie ängstlich, mal tanzt sie fröhlich, mal kämpft sie gegen Windstöße, mal erlebt sie Windstille, mal träumt sie von einer neuen und erneuerten Welt – ohne oberflächliche Etikettenschwindler, ohne spießige Vormünder, ohne egoistische Schmeichler, ohne naive Gutgläubige, ohne plumpe Wahrheitsfanatiker, ohne rücksichtslose Intrigen- und Machtspieler mit flotter oder gespaltener Zunge, ohne Nervenbündel, die als Nervensäge keine anderen Meinungen zulassen.
Stets wird der Körper der vierten Kerze, der wie die drei anderen Kerzen aus Wachs besteht, kleiner, schmilzt langsam dahin. Doch sie schenkt etwas Außergewöhnliches, Licht und Wärme – insbesondere allen Kerzen, die nicht brennen, aber sich nach Erleuchtung und Geborgenheit sehnen.
Den drei befreundeten Kerzen wird klar: „Das ist die Liebende.“ Als sie sich der Liebenden nähern, indem sie ihr Vertrauen schenken, springt das Feuer der Liebenden über und die Freundschaft erhält eine neue Würde und einen neuen Sinn. Und sie brennen, für andere da zu sein und ein gemeinsames Leben im Lichte der Liebe zu führen, damit der Traum der Liebenden eine reale Chance erhält.
Burkhard Budde