Moment mal

Insel der Stille

Von Burkhard Budde

Auf ein Wort

Insel der Stille 

Inseln der Stille können Menschen vor dem Ertrinken bewahren und retten, heilen und stärken. Die Gefahr ist allgegenwärtig, im Meer hektischer Betriebsamkeit, unverarbeiteter Reizüberflutung, gestresster Nerven, ängstlicher Seelen und dröhnender Verletzungen unterzugehen.

Wer jedoch jenseits von Kopflastigkeit und Herzlosigkeit, Gleichgültigkeit und Überheblichkeit eine Insel des Innehaltens und der Besinnung aufsucht, kann zerstörerischen Stress und runterziehenden Frust abbauen. Und in seinem Innenleben Unbekanntes sowie Überraschendes entdecken, das unverfügbar ist und ein persönliches Erlebnis darstellt. Stille mit der bewussten Wahrnehmung des Körpers, der Seele und des Geistes ist keine gähnende Langeweile, kein sinnloses Auf-der-Stelle-Treten, keine lähmende Sprachlosigkeit oder bedrohliche Ruhe vor dem großen Sturm. Eine zweckfreie Insel der Stille ermöglicht vielmehr, unterirdische Quellen des Lebens zu entdecken und aus ihnen neue Lebensenergie zu schöpfen.

Auch die Karwoche (althochdeutsch kara = Klage, Kummer, Trauer) kann zum Besuch einer heilsamen Unterbrechung einladen. Und sogar – gleichsam auf der Insel der stillen Selbsterfahrung – zu einer Insel der Gotteserfahrung mit Rettungsringen für das offene Meer werden. Die „Heilige Woche“ erinnert nämlich nicht nur an den Leidensweg Jesu: Am Palmsonntag an den Einzug Jesu in Jerusalem; am Gründonnerstag an das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern; am Karfreitag als „Stiller Freitag“ an die Kreuzigung Jesu; am Karsamstag an die Grabesruhe und schließlich Ostersonntag an die Auferstehung Jesu. Die bedeutendste Woche im Kirchenjahr kann vielmehr zugleich geistig-geistliche Erfahrungen aus erster und eigener Hand vergegenwärtigen.

Ich denke z. B. an den alten Mann, der im Sterben lag und mich bat, mit ihm Abendmahl zu feiern. Mein mitgebrachtes Kruzifix nahm er in die Hand, betastete den Körper Jesu und sagte: „Jesus, was hast du gelitten – doch auch für mich?!“ Bei diesem kurzen Satz fingen seine Augen an zu leuchten, als wenn er durch das intensive Bedenken des Leidens Jesu selbst ein Stück weit getröstet worden wäre. Hatte er neues Zutrauen und Zuversicht geschenkt bekommen, dass Gott nicht nur mitleidet, sondern auch sein Leiden überwinden kann?! Jedenfalls entschlief er mit einem Lächeln auf dem Gesicht friedlich und entspannt.

Es ist nicht so wichtig, ob es bei der Passion Jesu um einen Gekreuzigten gegangen ist, der hilflos alles erduldet hat (wie der Evangelist Markus betont); um einen Leidenden, der souverän seinen Leidensweg angenommen hat (ein theologischer Akzent des Matthäus); um einen Gerechten, der mit Gottes Hilfe seinen letzten Weg bejaht hat (so Lukas) oder Gottes Sohn, der von Gott selbst erhöht und verherrlicht wird (so Johannes). Viel „innovativer“ und „resilienter“ erscheint es, dass durch das offene und vorurteilsfreie Einlassen auf das Leiden Jesu persönliches Vertrauen auf das Wirken Gottes geweckt und gestärkt wird. Und durch den Glauben an Jesu Auferstehung ein Strahl ewigen Lichtes in die Welt gekommen ist – keine alte Sage mit vergangenen Helden, sondern ein persönliches Rettungsangebot in stürmischer See durch den Menschensohn, der glaubwürdig für ein neues Leben ohne Anfang und Ende bürgt. 

Burkhard Budde