Land und Leute

Helmstedt – Zeuge einer großen Zeit

Von Burkhard Budde

Manfred Gruner und Meike Jenzen-Kociok

Regionalhistoriker Manfred Gruner und Buchhändlerin Meike Jenzen-Kociok in Helmstedt

Begeisterte können begeistern.

Zum Beispiel Meike Jenzen-Kociok, die seit 1994 als Buchhändlerin im „Herzen Deutschlands“ tätig ist und Führungen durch die kleine Stadt mit großer Geschichte anbietet.

Sie ist von den Reizen der Stadt Helmstedts, die zwischen Elm und Lappwald bzw. dem nördlichen Harzv­orland und dem Nord­deutschen Tief­land liegt, begeistert.

Und immer noch fasziniert von den über 400 Professoren- und Fach­werkh­äusern aus dem 16. und 17. Jahr­hundert, die das Stadtbild Helmstedts prägen und häufig mit infor­mati­ven Gedenktafeln und beein­druckenden Fassaden gestaltet sind.

In der Tat öffnet die reizvolle Universitäts­geschichte der Stadt, die der Besucher beim Anblick des „Juleums“, des Aula­gebäudes der ehemaligen Universität im palast­artigen Renaissance­stil aus den Jahren 1592 bis 1597 zunächst nur erahnen kann, die Tür zur älteren deutschen Geistes­geschichte.

Herzog Julius zu Braunschweig und Lüneburg, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel (1528-1589) hatte 1570 das Pädagogikum in Gandersheim gegründet. Diese Muster­schule für die Aus­bildung von Geist­lichen wurde 1574 nach Helmstedt verlegt, zu einer Hoch­schule erweitert und konnte 1576 als protestan­tische Universität „Academia Julia“ eingeweiht werden. 1568 hatte Herzog Julius die Refor­mation im Herzogtum Braunschweig eingeführt und strebte daraufhin eine neue Führungs­schicht mit Theologen, Juristen, Medizinern und Lehrern im neuen Glauben an.

Erbprinz Heinrich Julius (1564-1613) wurde im Alter von zwölf Jahren der erste Rektor und zugleich auch Student der neuen Universität. Vom damals bedeutendsten deutschen Baumeister Paul Franke aus Weimar wurde das schönste Universitäts­gebäude seiner Zeit im Stil der Renaissance geschaffen. Schnell entwickelte sich mit zunächst vier Theologen, fünf Medizinern, sechs Juristen und neun Philosophen sowie 15 000 Studenten, die bis zum Jahr 1635 einge­schrieben waren, ein geistiges Zentrum mit über­regionaler Bedeutung – die Nummer drei hinter Wittenberg und Leipzig im Blick auf die Besucher­zahl. In Deutschland gab es damals 18 Univer­sitäten.

Juleum in Helmstedt

Das zwischen 1904 und 1906 aus Velpker Sandstein errichtete Helmstedter Rathaus

Nach Helmstedt, eine damals 3000 Bürger zählende Stadt, – in das „Athen der Welfen“ (Platons antike philo­sophische Akademie wird auch als Mutter aller Universitäten be­zeichnet) – kamen protestan­tische Studenten von den Nieder­landen bis zum Baltikum. Die Studenten wurden gegen Entgelt – ein „Zubrot“ für die Professoren – in Professoren­haushalten unter­gebracht.

Bekannte Persönlich­keiten wirkten in Helmstedt; zum Beispiel der Humanist Johannes Caselius (1533-1613), der eine Schule der Philosophie gründete; der Theologe Georg Calixt (1586-1656), der als Weg­bereiter der Ökumene gilt; der Mediziner und Publizist Hermann Conring (1606-1681), der als Begründer der Wissen­schaft der deutschen Rechts­geschichte angesehen wird; der italienische Philosoph und Dominikaner­mönch Giordano Bruno (1548-1600), der die Lehre des Kopernikus – die Erde dreht sich als Planet um die eigene Achse und bewegt sich wie die anderen Planeten um die Sonne – vertrat und deshalb im Jahr 1600 als Ketzer auf einem Scheiter­haufen in Rom ermordet wurde.

Auch Studenten, die später berühmt wurden, waren auf dieser Universität mit aner­kannten Professoren, die sich zudem durch eine praxis­nahe Aus­rich­tung der Lehre auszeich­nete sowie durch erste gedruckte Vorlesungs­verzeich­nisse; zum Beispiel der Physiker Otto von Guericke aus Magdeburg (1602-1686), der insbe­sondere durch seine Experi­mente zum Luft­druck mit den Halb­kugeln bekannt wurde; der Mathe­matiker und Astronom Carl Friedrich Gauß aus Braun­schweig (177-1855), dem „Ersten unter den Mathe­matikern“.

Kaiser Napoleon Bonaparte (1769-1821) ließ in der napoleonischen Ära (1806-1813) bzw. im neu geschaf­fenen König­reich Westfalen, das sein Bruder Jérôme regierte, durch eine Verfügung in Paris im Jahre 1809 die Univer­sitäten Helmstedt und Rinteln aufheben, die sein Bruder dann 1810 besiegelte. Offen­sichtlich sollte nicht nur Geld gespart, sondern auch das Geistes­leben in Deutschland geschwächt werden.

Universität Helmstedt
Baumeister Paul Franke aus Weimar schuf das schönste Universitäts­gebäude seiner Zeit.

Etwa 233 Jahre bestand die Universität. Geblieben sind die Bibliothek mit etwa 35 000 historischen Titeln (viele Werke sind nach der Auflösung in die herzogliche Bibliothek nach Wolfen­büttel gekommen), ein Kreis- und Universitäts­museum, Gebäude und Werke, glanz­volle Stein­metz­arbeiten im Spät­renaissance­stil von unschätz­barem Wert. In Erinnerung bleiben auch Namen von Wissen­schaftlern, die Programm sind, Weichen gestellt haben, auf deren Rücken die Nach­welt steht, die die Gegen­wart deshalb besser verstehen und weiter – besonnener und demütiger – in die Zukunft sehen kann. Und Wilhelm Raabe (1831-1910), der mehrere Jahre in Wolfen­büttel lebte, hat mit seiner Novelle „Die alte Univer­sität“ (1858) die bedeutende Univer­sitäts­geschichte litera­risch fest­gehalten.

Begeistert von Helmstedt ist auch Regional­historiker Manfred Gruner aus Bad Harzburg. Zum begeisternden Gesicht der Stadt zählt er das Rohr’sche Renaissance­haus mit seinen faszinie­renden Schnitze­reien am Markt (Papen­berg 2), in dem Herzog Julius bei seinen Besuchen wohnte und das als Hof­lager des Herzogs diente.

Dort können offene Augen auf Entdeckungsreise gehen: Die Wappen u.a. von Herzog Heinrich d.J. und Herzog Julius. Aber auch die allegorischen Darstellungen der sieben freien Künste – Lehrfächer der philosophischen Fakultät – Rhetorik, Geometrie, Dialektik, Arithmetik, Musik, Astronomie, Grammatik wecken die Phantasie des Betrachters. Und die Pietas („Frömmigkeit“) ist zusätzlich eingefügt.

Rohr'sches Haus in Helmstedt

Das Rohr’sche Renaissancehaus mit seinen faszinierenden Schnitzereien am Markt

Zum schönsten Fach­werk­haus in Helmstedt aus dem Jahr 1567 gehören auch Frauen­gestalten, die Tugenden und Laster symboli­sieren sowie religiöse öffent­liche Bekennt­nisse (übersetzt): „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten um­sonst, die daran bauen. Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst. Wenn du dem Herrn deine Werke anver­traust, so werden deine Planungen gesegnet sein. Im Jahre des Herrn 1567“.

Der Helmstedter Historiker und Heraus­geber eines Magazins, Henning Schwannecke, ist zudem begeistert von den Lübbe­steinen, die ältesten vor­geschicht­lichen Denk­mäler der Region, Begräbnis- und Kultur­stätten, die zwischen 3500 und 3000 v. Chr. west­lich vor Helm­stedt ange­legt worden sind. Er nennt zudem die Paramenten­werkstatt im Helm­stedter Kloster St. Marien­berg, die von Mechthild von Veltheim geleitet wird, wo der Funke der Begeiste­rung für Hand­werks­kunst über­springen kann.
Burkhard Budde, Wittich Schober und Manfred Gruner

Autor Burkhard Budde, Helmstedts Bürgermeister Wittich Schobert und Regionalhistoriker Manfred Gruner (von links)

Ferner sollte das im Jahr 1994 eröff­nete Zonen­grenz-Museum in Helm­stedt auf­ge­sucht werden – ein Ort des Ge­den­kens an das „Tor im eiser­nen Vor­hang“ sowie an die Brücke zwischen Ost und West. Und die Klöster Ludgeri, Marien­berg, Marien­tal, die Kirchen der Stadt und der Haus­manns­turm geben span­nende Ein­blicke in eine fremde Welt, die bis heute prägende Spuren hinter­lassen haben.

Helmstedts Bürger­meister Wittich Schobert ist stolz auf seine „Bildungs­stadt“ mit früherer Univer­sität sowie mit der ersten Latein­schule Deutsch­lands, die von der Bürger­schaft ab 1362 geführt wurde. Das Thema „Bildung“ sei noch heute eine der Visiten­karten Helmstedts. Und die gegen­wärtigen Stärken der Stadt? Jetzt ist der Bürger­meister in seinem Element und beschreibt die „Zentralität“ (zentrale Lage mit guten Verkehrs­anbindungen), das „Wachs­tum“ (Durch Zuzug bleibt die Ein­wohner­zahl stabil) sowie die „wirt­schaft­liche Ent­wick­lung“ (Es gibt mehr Berufs­ein­pendler als Aus­pendler.

Die Stadt kann sich zwischen den Ober­zentren Wolfs­burg, Braun­schweig und Magde­burg als eigen­ständiger und unab­hängiger Wohn-, Handels- Dienst­leistungs- und Gewerbe­ort besser „positio­nieren“, wobei die gemein­schaft­liche Entwick­lung von Land­kreis und Kom­munen „für alle gut ist“). Und im Jahr 2022 wird zum Beispiel mit der An­siedlung eines bekannten Internet­betriebes gerechnet.

Ein Tourist, der Helmstedt nur im schnellen Tempo konsumiert, kehrt beein­druckt nach Hause zurück. Ein Besucher jedoch, der die Sehens­würdig­skeiten bewusst wahr­nimmt und historisch nachzu­empfinden versucht, wird von der Stadt faszi­niert berichten. Denn der Genius loci, der Geist des Ortes, begeistert durch histo­rische Bildung, in der Wahr­nehmung, Infor­mation, Kenntnis und Deutung zum Erlebnis ver­schmelzen.