Moment mal

Gottesbezug?

Von Burkhard Budde

„Wenn Gott für uns ist, wer mag gegen uns sein?“

Gottesbezug ein alter Zopf? 

Ist eine moderne Gesellschaft von allen guten Geistern verlassen? Oder ist der Gottesbezug tatsächlich ein alter Zopf, der abgeschnitten gehört, weil er von vielen Menschen nur noch kopfschüttelnd hingenommen, belächelt oder gar verachtet wird? Zum Beispiel der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes, in der Eidesformel am Schluss eines Amtseides oder im Grundsatzprogramm einer Partei? Ist dieser Hinweis auf Gott etwa eine religiöse Dekoration, die mehr abschreckt als einlädt, mehr spaltet als zusammenführt, mehr Gleichgültigkeit als Gemeinsinn verbreitet, weil sie missbraucht werden kann und aus der Zeit fällt?

Braucht der moderne Mensch, der sich am eigenen Schopf aus dem Lebenssumpf zu befreien versucht, überhaupt noch ein unsichtbares Gegenüber, dessen Existenz nicht beweisbar ist, nur im religiösen Wort als allgegenwärtige und allgütige Lebenskraft versprochen wird, aber im realen Leben ein Nischendasein fristet? Ist der Mensch von heute nicht ohnehin alleiniger Maßstab und selbstbestimmter Chef seines Lebens?

Um bei all diesen Fragen sich nicht im Nebel der Gefühle zu verlaufen, ist die Unterscheidung der Geister zu empfehlen: In unserer säkularen, vielfältigen und toleranten Demokratie, die christliche und humane Wurzeln und Prägungen hat, sollte niemand von Juden, Christen oder Muslime erwarten, dass sie ihren Gott leugnen (die Lateiner sprechen von „ignoratio Dei“). Oder dass Nicht-Gott-Gläubige einen Gott, den sie nicht kennen, anrufen („invocatio Dei“). Wohl aber können alle Menschen aus rationalen Gründen Gott benennen („nominatio Dei“).

Die Nennung des Namens Gott im Grundgesetz erinnert nämlich an die menschenverachtende Zeit des Nationalsozialismus. Diese bleibende Erinnerung ist zugleich eine ständige Aufforderung, aus der Geschichte zu lernen und den Anfängen von Antisemitismus und Rassismus, Hass und Gewalt zu wehren. Kein Staat, keine Partei, keine Organisation darf jemals wieder allmächtig und totalitär werden, und dem Menschen seine individuellen Freiheiten nehmen, ihn zum Sklaven einer ideologischen Gruppe machen oder zum Handlanger eines entmenschlichten Denkens erziehen wollen. Auch eine liberale Demokratie braucht ein unverfügbares Gegenüber („Theonomie“), um ihre aufgeklärte Menschlichkeit („Autonomie“) nicht zu verlieren.

Ein genannter Gottesbezug ist eine Vergewisserung: Jeder Mensch hat eine angeborene Würde geschenkt bekommen. Und dieses Geschenk kann kein Mensch an keinem Ort und zu keiner Zeit verlieren, weil kein Mensch, sondern der Geber dieser bedingungslosen Gabe außerhalb des menschlich Denkbaren liegt. Manche nennen es „Zufall“; aber vielleicht ist ja der „Zufall“ eine Möglichkeit Gottes, durch die Achtung der unantastbaren Würde seiner Geschöpfe zu wirken.

Schließlich weist der Gottesbezug alle Menschen auf eine letzte Verantwortungsinstanz hin: Auch der mächtigste Machtmensch, der brutal und gottlos lebt, wird sich hoffentlich vor menschlichen Gerichten, aber auch eines Tages – er lebt ja nicht ewig – vor der Instanz seines Schöpfers für seine Taten rechtfertigen müssen, der keine Moralkeule schwingt, wohl aber schon jetzt nach der Verantwortung des Menschen fragt.

Für bekennende Gottgläubige ist Gott kein abstraktes Objekt, keine leere Formel, kein Instrument der eigenen Wunscherfüllung, sondern ein freies handelndes Subjekt in allen Lebenslagen.

Für Nichtgläubige bietet die aufrichtige Nennung des Gottesbezuges die Möglichkeit, den eigenen Kopf von Allmachtsphantasien zu befreien und auf dem Teppich zu bleiben – kein alter Zopf, sondern ein attraktives Aussehen einer Gesellschaft mit menschlichen Gesichtern und klugen Köpfen, die eine wehrhafte Demokratie so nötig braucht.

Burkhard Budde