Auf ein Wort
Suche gute Tugend: Gerechtigkeit
Von Burkhard Budde

Auf ein Wort
Suche gute Tugend: Gerechtigkeit
Ist die alte Tugend Gerechtigkeit heute noch alltags- und lebenstauglich? Oder ist „Gerechtigkeit“ zu einem allgemeinen Containerwort geworden, in das jeder seine Vorstellungen von einem gerechteren Leben füllen kann? Zu einer politischen Seifenblase, die in der Luft bzw. in der Theorie in allen Farben schillert, aber bei der Berührung mit den harten und komplexen Realitäten platzt? Zu einem warmen Kleid, dass bei sozialer Kälte angezogen, aber in der Hitze des Gefechts je nach Mehrheits- und Machtoptionen ausgezogen wird? Oder ist Gerechtigkeit zu einem Deckmantel geworden, um im Namen von Gerechtigkeit keine Krümel, sondern möglichst die leckeren Rosinen vom öffentlichen Kuchen zu ergattern?
Die Nerven vieler liegen blank, wenn das Gespenst Ungerechtigkeit auftaucht: Die zu schlechte Note, das zu geringe Gehalt, das zu kleine Erbe, die ausbleibende Karriere, die fehlende Wertschätzung, die angebliche Bevorzugung anderer sowie vieles mehr – alles Schikane, alles ungerecht?!
Die alte Tugend der Gerechtigkeit, die sowohl die ausgleichende Gerechtigkeit als auch die austeilende Gerechtigkeit umfasst, also eine gleiche Behandlung etwa beim Tausch von Gütern fordert und jedem das Seine zuteilen will, scheint aktueller denn je zu sein.
Diese Tugend ist wie ein Mosaik aus vielen Facetten, das nie fertig, sondern stets bearbeitet werden muss, da sich ihre Teile im Laufe der Zeit verändern, Risse und Brüche bekommen können und stets aktualisiert, d. h. in einer neuen Situation neu bedacht werden müssen:
Zum Mosaik gehört eine faire Behandlung. Ein fleißiger und leistungsstarker Schüler beispielsweise hat eine bessere Note verdient als ein Mitschüler, der sich auf die faule Haut legt. Wenn ein Lehrer in der Notengebung alle Schüler gleich behandeln würde, würde er keinem Schüler mehr gerecht, Lern- und Entwicklungsleistungen bestrafen und die „Leistung“ ohne Anstrengung oder Gleichgültigkeit belohnen.
Ein weiterer Mosaikstein sind gleiche Bedingungen und reale Möglichkeiten. Neben der Gleichheit aller vor dem Gesetz muss es in einer fairen Leistungsgesellschaft im Gegensatz zur Feudalherrschaft oder Gruppengesellschaft gleiche Chancen geben aufzusteigen, gleiche Bildungsangebote zu bekommen, einen gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern zu erhalten und in der medizinischen Versorgung gleich behandelt zu werden, d.h. zu bekommen, was der Patient zu seiner Genesung braucht.
Zudem sind angemessene Beiträge des einzelnen für das Gemeinwohl und die allgemeine Infrastruktur sowie die Mit- und Nachwelt untrennbare Teile des Mosaiks, da sonst (weitere) Gerechtigkeitslücken entstehen würden und das ganze Mosaik auseinanderbräche. Ohne eine echte Leistungs-, Chancen-, Generationen- und Verteilungsgerechtigkeit könnte es keine solidarische Bedarfs- und Befähigungsgerechtigkeit geben, die den wirklich Bedürftigen hilft.
Bei der Suche nach einem gerechten Ausgleich der unterschiedlichen Mosaiksteine spielen individuelle Freiheit und Eigenverantwortung sowie die gemeinsame Verantwortung für das ganze Mosaik eine zentrale Rolle. Und auch im Alltag bleiben Fairness, Verhältnismäßigkeit sowie eine konstruktive und solidarische Grundhaltung ein Balanceakt mit Priorisierungen bei der Bearbeitung der einzelnen Steine wichtig. Aber ohne diese ständige Suche nach Gerechtigkeit gäbe es keinen Frieden in Freiheit und Sicherheit, keine gerechte Einheit in Vielfalt – kein humanes und soziales Mosaik, das ausgleichend und austeilend wirkt.
Burkhard Budde