Moment mal

Gelebte Toleranz

Von Burkhard Budde

Der Igel als Symbol der Verteidigungsfähigkeit und zugleich der Toleranz

Das Stachelkleid der Toleranz

Manche Menschen erinnern an liebenswürdige Igel. Angesichts der vielen Gefahren im Leben verstehen sie sich weder als Kuscheltiere noch als Raubtiere. Auch nicht als Gewohnheitstiere, in denen viel Trägheit wohnt, oder als Faultiere, die keine Lust auf Bewegung haben. Und auch nicht als geschickte Verwandlungs- und Anpassungskünstler.

„Ich will einfach nur tolerant, nicht intolerant sein“, erläutert ein Igel. Aber was bedeutet (In-) Toleranz in einem vielfältigen Lebensraum? Die eigene Wahrheit mit einer geistigen Keule anderen aufzuzwingen? Die eigene Meinung zu verschweigen, um stressfreier zu leben? Oder gar die eigenen Argumente aufzugeben, gleichsam die eigenen Stacheln abzulegen, weil sie sonst provozieren könnten – was aber in Wirklichkeit nur zu intoleranter Aggression ermutigt?

Igel, die unter Toleranz gönnerhafte Duldung verstehen, sitzen wie auf einem Hochsitz, erlauben von oben herab das „Andere“ und beleidigen dadurch die Würde des Andersdenkenden.

Igel, die im Gewand der Toleranz der Meinung eines anderen zustimmen, um Vorteile oder Erfolg zu haben, opfern ihr eigenes Wissen und Gewissen auf dem Altar ihrer Glaubwürdigkeit.

Igel können auch im Namen der Toleranz sehr intolerant sein, indem sie sich wie Wölfe im Schafsfell verhalten, Andersdenkende scheinheilig verteufeln, diffamieren und zu vernichten versuchen.

Igel, die jedoch unter Toleranz weder willkürliche oder intolerante Herrschaft noch freiwillige Selbstaufgabe verstehen, werden durch Selbstvergewisserung toleranter, im gegenseitigen Respekt dialog- und gemeinschaftsfähiger. Denn nur wer eine eigene Meinung hat, selbst schwimmen kann, gerät im Strudel der Konflikte nicht ins Schwimmen, wird selbst tragfähig, um andere Positionen zu ertragen.

Toleranz ist weder eine Einbahnstraße noch eine Sackgasse. Sie kann vielmehr mit einer Brücke verglichen werden, auf der es bei der Wahrheits- und Erkenntnissuche zu einem fairen Wettstreit der Argumente kommt, aber auf der auch gegenseitiger Respekt auf beiden Seiten und auf Augenhöhe erlebbar ist, wenn Meinungsunterschiede (noch) nicht überwunden werden können.

Toleranz heißt nicht Akzeptanz; sie kennt Grenzen wie Hass und Schläge unter die Gürtellinie sowie Heucheleien, die schon Jesus geißelte (Matthäus 23,27 und 28). Zur Toleranz gehört ein Stachelkleid, das Verteidigungsfähigkeit und Widerstandskraft ermöglicht, um der Meinungsfreiheit und Vielfalt in Würde, das Aushalten von Widersprüchen sowie der Versöhnung eine reale Chance zu geben.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 5.6.2021 in der Kolumne „Moment mal“