Moment mal

Faden nach oben

Von Burkhard Budde

Moment mal

Faden nach oben 

Kann ein Vogel im Käfig am Himmel fliegen? Ein Fisch im Aquarium das Meer erkunden? Ein Löwe im Zoo die Steppe erleben?

Vielleicht will ein Vogel seinen Käfig gar nicht verlassen, weil er ihm Sicherheit gibt. Ein Fisch nicht sein Aquarium, weil er zufrieden ist. Ein Löwe nicht seinen Zoo, weil er sich eine andere Welt nicht vorstellen kann oder will.

Aber wenn im goldenen Käfig, im überschaubaren Aquarium, im freundlichen Zoo die Neugierde nach Freiheit geweckt wird, die Sehnsucht nach Höhe, Tiefe und Weite wächst?!

Weil Geschöpfe entdeckt haben, dass ihr Leben mehr ist als Prägungen und Gewohnheiten, Kulturen und Traditionen? Mehr als Höhen des Glücks, Tiefen des Unglücks und Weiten des Glücks im Unglück? Weil sie in allen Fortschritten und Rückschritten, in allen Hoffnungen und Ängsten sich auf die Suche nach dem Sinn machen, nach dem roten Faden im Leben?

Wozu lebe ich? Warum lebe ich hier und heute? Woher komme ich? Wohin führt mein Leben? Und wenn es ein Leben außerhalb meines Lebens geben sollte? Kann ich es durch die Gitterstäbe und Scheiben meiner Existenz erahnen und entdecken –  oder erst im Rückblick den Durchblick gewinnen?

Es gibt die Erfahrung von Neuanfängen, die mehr sind als die Fortsetzung des Alten: Wer sein altes Leben loslässt, bricht zu neuen Ufern auf. Wer sein Leben mit seinem Nächsten teilen lernt, bei dem kann es wie Schuppen von den Augen fallen: Im Du wird das erneuerte Ich erlebbar. Und wer sich auf die biblischen Spuren „Siehe, ich mache alles neu!“ (Offb.21,5) begibt, kann selbst in der Ohnmacht eine neue Macht erfahren: Die Hoffnung auf Gottes Wirken, bis sich neuer Sinn einstellt.

Es lohnt sich, mehr souveräne Freiheit durch Gottvertrauen und weniger Angst vor Raubtieren zu haben, die wirklich in Käfige gehören. Im Lebenskampf um Freiheit in Sicherheit sowie Frieden in Gerechtigkeit kann ein Faden nach oben aufleuchten, der das ganze Netz seidener Fäden in Zeit und Ewigkeit hält. Und letzten Sinn schenkt.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 4.3.2023 in der Kolumne „Moment mal“