Moment mal

Erinnerung – Schrittmacher

Von Burkhard Budde

Erinnerung an die Erweckungsbewegung berührt Kopf und Herz und öffnet Hände

Moment mal

Erinnerung als Schrittmacher

Bleibt nur eine Erinnerung? Mein Vater, der vor 20 Jahren gestorben ist, hatte einen liebenswerten „eigenen Kopf“. Als ein Kind der Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung – eine evangelische Frömmigkeitsbewegung in Ostwestfalen-Lippe mit Wurzeln im 19. Jahrhundert – lag ihm der sonntägliche Gottesdienstbesuch besonders am Herzen. Wenn eines seiner sechs Kinder ihn begleitete und anschließend den Pastor wegen seiner „langweiligen“ oder „weltfremden“ Predigt kritisierte, pflegte er zu sagen: „Keiner geht doch wegen des Pastors in die Kirche, sondern um Gott die Ehre zu geben.“ Und schmunzelnd fügte er noch hinzu: „Dann nimm doch wenigstens einen zündenden Gedanken eines Liedes oder eines Gebetes mit, damit die Zeit nicht vergebens war.“

Die Erweckungsbewegung, von der mein 1926 geborener Vater geistig-geistliche Impulse erhielt,  war eine Glaubens– und Lebensbewegung, die sich stark an der Bibel orientierte, und die die persönliche Bekehrung des Einzelnen im Fokus hatte. Es ging um den „Ruf des Evangeliums zur Umkehr“ sowie – im 19. Jahrhundert! – um die Abkehr von weltlichen Werten wie Tanz und Kartenspiel, was ich als Jugendlicher schon nicht verstand, da ich von der „Freiheit eines Christenmenschen“, der seine Verantwortung vor Gott wahrnimmt, stets überzeugt war.

Die Bewegung war darüber hinaus eine Volks– und Kirchenbewegung, die auf Grund von Predigten und Missionstätigkeiten von Pastoren wie die des Jöllenbecker Pfarrers Johann Heinrich Volkening (1796 bis 1877) Menschen ansprechen und begeistern konnte. Sowohl innerhalb und am Rande als auch außerhalb der verfassten ev. Kirche wirkten zudem „erwecklich-erbaulich“ zum Beispiel Missionsfeste und Posaunenchöre sowie das Erbauungsschrifttum.

Schließlich war diese Bewegung eine Diakonie– und Sozialbewegung zur Gründung von „Rettungsanstalten“ für „verwahrloste Jugendliche“ und von „Siechenhäusern“ für alte und pflegebedürftige Menschen. Bekannte diakonische Einrichtungen verdanken ihr ihre Existenz, zum Beispiel Eben-Ezer in Lemgo (gegr. 1852), die Von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld (1867) oder der Wittekindshof in Bad Qeynhausen- Volmerdingsen (1887).

Wenn der Zeitgeist auch andere Themen auf der Tagesordnung hat wie übertriebene Selbstbestimmung oder den radikalen Umbau der Gesellschaft, so bleibt doch die verborgene, aber immer noch anziehende und ausstrahlende Kraft dieser Bewegung. Im Stillen und im Herzen vieler lebt die Sehnsucht nach dem Meer eines Glaubens, der das Leben erweitert und vertieft. Und nach den Bergen einer Liebe, die in den Tälern Kraft und auf den Höhen Glück schenkt. Darunter sind viele „kluge Köpfe“ mit liebenden Augen und helfenden Händen. Ihre Erinnerung an die Geschichte Gottes mit Menschen bleibt – als Schrittmacher auch einer aktuellen geistig-geistlichen sowie sozialen Rundumerneuerung.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe

am 5.2.2022 in der Kolumne „Moment mal“