Moment mal
Erdbeben
Von Burkhard Budde

Der verbrecherische Angriffskrieg in der Ukraine nimmt keine Rücksicht auf unschuldige und wehrlose Menschen
Unbegreifliches Erdbeben
Zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine
Von Burkhard Budde
Ein unfassbares und unbegreifliches Erdbeben erschüttert die Sicherheitslage auf der ganze Welt: Der russische Präsident Wladimir Putin gab am 24. Februar 2022 eine Kriegserklärung ab und begann einen brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.
Putin, der Auftraggeber von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dessen Amt aber kein Freibrief für Verbrechen ist, begründete den Krieg u.a. damit, dass es Versuche gebe, „unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen.“ Diese westlichen Werte würden zu „Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind.“
In der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk gebe es einen „Völkermord“ und deshalb sei der Beschluss gefasst worden, eine „besondere militärische Operation“ durchzuführen. Ihr Ziel sei es, die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren von dem Kiewer Regime misshandelt und ermordet würden. Und zu diesem Zweck würde Russland sich um die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ bemühen. Anderen Staaten drohte er bei Einmischung mit Konsequenzen, „wie nie zuvor in der Geschichte“.
In Wahrheit ist die 1991 gegründete Ukraine mit der Hauptstadt Kiew und mit etwa 44,13 Millionen Einwohnern sowie einer Fläche von 603.548 km² ein selbstständiger Staat mit einer parlamentarisch-präsidialen Ordnung, der mit seinem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj souverän und unabhängig bleiben und Mitglied der Nato – ein Verteidigungsbündnis sowie eine Werte- und Rechtsgemeinschaft von 30 freien demokratischen Staaten – sowie der Europäischen Union – ein Staatenverbund von 27 unabhängigen europäischen Staaten bzw. eine Werte-, Friedens-, Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft mit insgesamt etwa 450 Millionen Einwohnern – werden möchte.
Im Jahr 2014 hatte Russland bereits die ukrainische Halbinsel Krim mit Gewalt – mit einer verdeckten Intervention der Streitkräfte der Russischen Föderation – zu einem Teil Russlands gemacht, die territoriale Integrität – insbesondere die Achtung der bestehenden Grenzen der Ukraine – und das Völkerrecht missachtet. Die UN-Generalversammlung bekräftigte im Jahr 2016 die Nichtanerkennung der Annexion der Krim und verurteilte „die vorübergehende Besetzung“.
Im Jahr 2022 wurde die UN-Charta durch den Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine erneut verletzt. Mit der kriegerischen Invasion eines ganzen Landes wurden gleichzeitig nukleare Schläge angedroht, wenn ein anderes Land der angegriffenen Ukraine zu Hilfe kommen sollte.
Noch während der Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates zur Verhinderung des Krieges am 23. Februar (New Yorker Zeit) war der Angriffsbefehl Putins erfolgt.
Auf der UNO-Generalversammlung am 2. März 2022 wurde der Krieg Russlands gegen die Ukraine verurteilt. In der verabschiedeten Resolution forderten 141 der 193 UNO-Mitgliedstaaten Russland zu einem „sofortigen Waffenstillstand“ auf sowie zu einem „sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Rückzug“ seiner Streitkräfte aus der Ukraine. Die internationale Gemeinschaft bekannte sich zur Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Integrität der Ukraine. Gegen die Resolution stimmten neben Russland Belarus, Syrien und Eritrea. 35 Staaten – darunter China, Indien, Iran, Kuba, Venezuela und Nicaragua – enthielten sich.
Der Gewaltherrscher Putin ist getrieben von einem hasserfüllten Missionsrausch, alte Sowjetverhältnisse wieder herzustellen. Eiskalt betreibt er mit Täuschungsmanövern und einer Lügenpropaganda sowie einem völkerrechtswidrigen militärischen Vorgehen die Unterwerfung der „russischen“ Ukraine. Der autoritäre Herrscher scheint eine panische Angst vor der Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung, ihrer Rechtsstaatlichkeit und ihren unabhängigen Medien zu haben. Das neue Gesetz gegen die Verbreitung von „Falschmeldungen“ vom 4. März 2022, das ausdrücklich auch auf Ausländer angewandt werden soll, zerstört die letzten Möglichkeiten einer freien und unabhängigen Berichterstattung sowie der Meinungsfreiheit russischer Bürger. Es drohen 15 Jahre Haft, wenn der offiziellen Darstellung der Aktivität der russischen Streitkräfte widersprochen wird. Nicht von Strafe bedroht, so Berthold Kohler in der F.A.Z. vom 8.3.2022, ist „nur noch das Nachbeten der Propaganda“. Die Gleichschaltung der russischen Medien mit den Zensurgesetzen des Putin-Regimes offenbart „die Angst im Kreml vor der Wahrheit.“ Aus einer autoritären Herrschaft ist eine diktatorische Herrschaft mit totalitärem Charakter geworden, aus einem verbrecherischen Angriffskrieg eine russische „Spezialoperation.“
Zynisch spielt Putin mit dem nuklearen Feuer sowie mit einer Atomkraftkatastrophe, um mit Ängsten in ganz Europa eine Entsolidarisierung mit der Ukraine zu erreichen.
In der Ukraine gibt es bereits viele Opfer zu verzeichnen, getötete, sterbende, verletzte und leidende Menschen, darunter viele Kinder, Frauen, alte und kranke Menschen, sowie immer mehr Flüchtlinge. Die Absicht der Vertreibung angesichts des großrussischen Wahns Putins erinnern, so Jasper von Altenbockum in der F.A.Z. vom 7.3.2022, an die „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien. Humanitäre Korridore dienten wieder nicht nur der Rettung, sondern auch der „geordneten“ Vertreibung. „Bleiben oder wiederkommen sollen nur diejenigen, die „russisch“ sind“, so der F.A.Z. Redakteur.
Eine geschichtliche Katastrophe bahnt sich an. Die stalinistischen und nationalistischen Gewalttaten gleichen immer mehr Putins Kriegsverbrechen, indem Putin bewusst und gezielt Wohnhäuser, Krankenhäuser und Zivilisten angreifen lässt. Ob die Menschen in der Ukraine allein für die „gesamte freie Welt“ kämpfen (müssen); der freie Westen auf Dauer nur weinen und klagen, appellieren und bitten, politische Solidarität zeigen, wirtschaftliche Sanktionen ergreifen, Verteidigungswaffen zur Verfügung stellen kann? Ohne die Rolle des „aktiven“ Zuschauers zu verlassen? Oder wird der Völkermord die Entscheidung erzwingen, die Rolle des „aktiven“ Friedensstifters mit kühlem Kopf und strategischem Denken einzunehmen, sich zum Beispiel für eine Flugverbotszone über dem ukrainischen Himmel einzusetzen? Reinhard Müller kommentiert: „Alle Staaten sind dazu verpflichtet, überall Völkermord zu verhindern. Daraus folgt aber keine Pflicht zum militärischen Eingreifen. Es gibt ein Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, aber keine Pflicht.“ Umso wichtiger bleibt, so der Redakteur, eine unmissverständliche Haltung zu Russlands Rechtsbrüchen. „Neutralität verbietet sich.“
Die katholischen Bischöfe schreiben in einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz: Deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine seien ethisch vertretbar, weil sie dazu dienten, dass das angegriffene Land „sein völkerrechtlich verbrieftes und auch von der kirchlichen Friedensethik bejahtes Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen kann, grundsätzlich legitim.“ In einem Kommentar zur Bischofskonferenz weist Daniel Deckers darauf hin, dass die Bischöfe schneller in der Wirklichkeit angekommen seien als manche ihrer evangelischen Kollegen; beide müssten sich jedoch fragen lassen, ob sie mit ihrer jahrzehntelangen Diskreditierungen von Rüstungsanstrengungen sowie der Glorifizierung einer postheroischen Gesellschaft im Namen christlich gebotener Gewaltlosigkeit nicht genau jene Gesinnungen gefördert haben, die die deutsche Politik blind gemacht haben für die Abgründe der Realpolitik.“
Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), vertritt in einem Interview mit Martin Korte in der Goslarschen Zeitung vom 7.3.2022 die Meinung, dass die Ukrainer „mehr als unser Mitgefühl und unsere Gebete“ brauchen. Sie hätten das Recht, sich zu verteidigen. „Wer bin ich, ihnen ins Gesicht zu sagen, sie sollten dazu Pflugscharen benutzen“, so die leitende Theologin, die allerdings auch betont, „dass Waffen grundsätzlich kein Mittel sind, die den Frieden bringen.“ Sie setze angesichts der „Dilemma- Situation“ „weiterhin auf Diplomatie und möglichst wenig Waffen.“
Ob sich jedoch Putin von „weniger Waffen“ beeindrucken lässt – ein rücksichtsloser Machtmensch mit brutaler Maßlosigkeit im Krieg, mit seinem größenwahnsinnigen Staatskult, mit seinem Überwachungsstaat inklusive Totalkontrolle der Medien?
Widersprechen werden vielleicht geblendete Putin-Versteher oder getäuschte Putin-Verehrer oder gedrillte Putin-Freunde, die mit geschichtsklitternder Verehrung und Verklärung ihr Gewissen beruhigen, um nicht auf ihre Vorteile, die sie durch die „Putin-Freundschaft“ haben, verzichten zu müssen.
Und welche Meinung vertritt die russisch-orthodoxe Kirche? In der F.A.Z. vom 5. März 2022 weist Heike Schmoll darauf hin, dass Kyrill I., seit 2009 Patriarch von Moskau und damit der Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, nicht die Russische Föderation als Angreifer des Krieges in der Ukraine benennt, sondern „böse Kräfte“ dafür verantwortlich macht. Zum „Tag des Vaterlandsverteidigers“ – einen Tag vor Kriegsbeginn – hatte Kyrill Putin gratuliert und davon gesprochen, dass die russisch-orthodoxe Kirche im Kriegsdienst eine Bekundung von „Nächstenliebe nach dem Evangelium“ erblicke. Der Mönch Kyrill, der ein Vermögen von mehreren Millionen Dollar haben soll, hält den westlichen Liberalismus für „Teufelszeug“, die Gleichstellung homosexueller Menschen als ein „Zeichen für den nahen Weltuntergang“. Mit Putin verbindet ihn, wie Heike Schmoll schreibt, ein moralisches Überlegenheitsgefühl gegenüber einem sittenwidrigen Westen, die Dämonisierung des Westens sowie die Sakralisierung der russischen Politik, um die Einheit von Autokratie, Orthodoxie und Volkstum zu stärken. Nichtsdestotrotz haben sich die drei Kirchen der Ukraine, die alle einem orthodox-byzantinischen Ritus folgen, nach dem Überfall Russlands mit dem ukrainischen Volk solidarisiert – die griechisch-katholische Kirche, die mit dem Papst verbunden ist; die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche, die unabhängig ist; die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die moskautreu und Kyrill unterstellt ist. Gleichwohl hat Kyrill I den russischen Angriff auf die Ukraine bislang nicht verurteilt.
Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist die Wiege der russisch-orthodoxen Kirche sowie der russischen Kultur: Im Jahre 988 begann Fürst Wladimir mit der Christianisierung der sogenannten Kiewer Rus, des alten Reiches, als er die Tochter des byzantinischen Kaisers Romanos II heiratete, die Prinzessin Anna von Byzanz. Im 12. Jahrhundert wurde – wie der Historiker Karl Schlögel in der F.A.Z. vom 12. 3. 2022 schreibt – Kiew erstmals als „Mutter aller russischen Städte“ bezeichnet. Die Hauptstadt der alten Rus soll am 12.3. 1169 zerstört worden sein – der Beginn der Verlagerung des Zentrums des alten Rus in das spätere Großfürstentum Moskau bzw. den Moskauer Staat mit seiner Autokratie sowie der Entwicklung der östlichen Despotie und der Hinwendung der alten Rus nach Westen, so Schlögel.
Die Bolschewiki – die „Mehrheitler“, eine Fraktion unter der Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands – hatten die Ukrainische Sowjetrepublik 1922 gegründet. Hintergrund war eine ukrainische Nationalbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die trotz der Unterdrückung durch das zaristische Russland wuchs und auch viele Kommunisten als Anhänger hatte. Josef Stalin, Diktator der Sowjetunion von 1927 bis 1953, ließ massenhaft ukrainische Intellektuelle ermorden und führte eine Hungersnot herbei, der fast vier Millionen Menschen das Leben kostete. Reinhard Veser weist in seinem Artikel „Der Staat, den es nicht geben darf“ (F.A.Z. vom 23.2.2022) darauf hin, dass Putin in seinem einseitigen und instrumentalisierten Geschichtsbild diese Taten Stalins verschweigt, aber dass Stalin – so Putin – versäumt habe, „den Staat auch formal zu zentralisieren und die Sowjetrepubliken aufzulösen.“ Putin kann offensichtlich nicht akzeptieren, dass die Ukraine 1991 unabhängig geworden ist, vor allem nicht die demokratischen Revolutionen in der Ukraine von 2004 und 2014 – für Putin ein „Staatsstreich“ -, weil die Bevölkerung die Selbstbereicherung der Oligarchen hinter demokratischen Fassaden nicht länger ertragen wollte.
1994 hatten im „Budapester Memorandum“ Russland, USA und Großbritannien der Ukraine ihre Unabhängigkeit und ihre territoriale Integrität garantiert, da die Ukraine ihre Nuklearwaffen an Russland übergeben hatte.
2022 hat Putin kein Interesse mehr an solchen Garantien, die er vielmehr hemmungslos und menschenverachtend mit Füßen tritt, um seine Ziele zu erreichen wie die Anerkennung der Krim als russisches Territorium, Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden ostukrainischen „Volksrepubliken“ im Donbass und die Verankerung der Neutralität in der Verfassung der Ukraine, aber auch die Abkehr der Ukraine vom Westen und die Kontrolle durch Moskau, so Nikolas Busse (F.A.Z. vom 8.3.2022). Und die russischen Truppen begehen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fragt in einem Gastkommentar für WELT vom 9.3.2022: „Besteht der Preis dafür, dass jemand in Deutschland die Augen geöffnet werden, darin, dass in der Ukraine die Augen für immer geschlossen werden?“ Und er bittet die Deutschen: „Öffnet Eure Augen! Zweifelsohne war Hitler ein einzigartiges Übel. Aber so ein Ausmaß an Hass, Zerstörung und Trauer, wie Putin uns jetzt bereitet, kennen die Ukrainer und Europa seit den 1940er Jahren nicht.“
Ich hoffe, dass bald wieder Frieden herrscht, dass alle Menschen – in der Ukraine und darüber hinaus – ein Leben ohne ohnmächtige Angst und unverschuldetes Leiden in Sicherheit und Freiheit führen können. Und dass Putin zur Rechenschaft gezogen wird; der Krieg von Russland in der Ukraine vorbei ist und eine absolute Ausnahmeerscheinung bleibt, weil die freien Länder die richtigen Schlüsse ziehen, wachsam und klug, verteidigungsbereit und verteidigungsfähig gegenüber autoritären und diktatorischen Staaten – für den möglichen Fall eines „unmöglichen“ Falles – geworden sind und bleiben. Dass der Friede wächst und zwar in Freiheit und Würde, in Gerechtigkeit und Verantwortung, vor allem in der Bindung an die Menschenrechte sowie im selbstbestimmten Glück freier und mutiger Bürger.
Burkhard Budde
Aus: Burkhard Budde, Inspirationen für Gegenwart und Zukunft. Kleines Kompendium christlichen Wissens; das Buch erscheint im Laufe des Jahres 2022