Moment mal

Die Stimme eines Engels

VonBurkhard Budde

Ein Engel mit Herz

Ein Engel ohne Flügel spricht.

Ein kleiner, aber pfiffiger Wuschelklopf begegnet einem Engel. Der sieht gar nicht so aus wie ein Engel, da er keine Flügel hat. Auch singt er nicht wie andere Engel, jedenfalls hört man keine Lieder mit einem kräftigen „Halleluja“. Er sitzt einfach stumm da, als der Junge auf ihn im Traum trifft, allein in seiner dunklen Ecke, und wirkt wie von allen guten Geistern verlassen.

„Warum bist du so traurig?“ fragt der Junge ihn ganz direkt. Der Engel hebt seinen Kopf ein wenig, sucht die Augen des Jungen, schließt dann jedoch seine Augen, senkt seinen Kopf, der – bei genauerem Hinsehen – dem des Jungen sehr ähnlich ist: lockiges Haar, blaue Augen, kleine zarte Nase, schöne Ohren  sowie ein schmaler Mund mit vollen Lippen – wie aus einem Bilderbuch eines Künstlers. „Du kannst mir auch nicht helfen“, flüstert der Engel etwas schwer atmend. Und seine Worte, die über seine Lippen kommen, klingen etwas verbittert. „Keiner will meine Botschaft hören. Sobald ich etwas sage, schalten die Menschen auf stur, sind desinteressiert und gleichgültig. Oder sie schenken mir gönnerhaft ein Lächeln. Und machen sich dann vom Acker.“

Der Wuschelkopf reagiert verdutzt. „Du bist doch ein Bote einer frohen Botschaft. Und kannst dich selbst nicht  freuen?!“ fragt er. „Nein, nicht auf Knopfdruck. Ich bin doch keine Maschine oder ein Schauspieler mit einem Münzautomatenlächeln“, erwidert  der Engel ehrlich. Da der Junge jedoch den Engel irgendwie zu verstehen versucht und Mitgefühl hat, schlägt er ihm spontan etwas vor: „Begleite mich! Ich besuche Verwandte und Bekannte. Vielleicht wirst du dann wieder froh.“ Allerdings – schießt es dem Jungen durch den Kopf – werde es nicht so einfach sein. „Wir werden Einrichtungen kennenlernen, in denen Sicherheitsbestimmungen herrschen, vorgeschriebene Abstände, genaue Kontrollen und eine Vielfalt von bürokratischen Maßnahmen, damit Menschen geschützt werden und sicher leben können“, erläutert er. Und Orte, fügt der pfiffige Junge geheimnisvoll hinzu, an denen  Menschen in ihrem Alltag  Theater spielen, Tragödien sich in Komödien ereignen können. Der Engel – offensichtlich kein Superheld oder Überflieger, aber auch kein ängstlicher Versteckspieler oder gleichgültiger Zuschauer – ist jetzt richtig neugierig geworden. Und Geheimnisse, ungeschminkte Wahrheiten, gerade wenn sie geschminkt daherkommen,  interessieren ihn eigentlich schon immer. Er gibt sich einen Ruck, steht auf, verlässt seine enge Nische und geht mit dem Jungen.

Besuch im Alten- und Pflegheim

Zunächst führt der Weg in ein Alten- und Pflegeheim, fast eine befestigte Burg, denken manche. Dort lebt eine alte und pflegbedürftige Frau, eine Diakonisse, die der Junge schon viele Jahre lang kennt. Sie soll sogar schon für ihn gebetet haben, als er sehr krank gewesen ist, wie seine Mutter ihm einmal erzählte.

„Ein Leben lang habe ich gerne und rund um die Uhr gearbeitet“, erzählt die Diakonisse. „Aber jetzt liege ich nur noch im Bett und kann nichts mehr tun. Ich möchte sterben. Ich bin nur noch eine Belastung. Aber Gott erhört mich nicht“. Der Junge hat das schon häufiger von ihr gehört. „Ich verstehe dich“, sagt er wie ein einfühlsamer Seelsorger, fügt dann jedoch etwas Naseweises hinzu, um sie mit eigenen Waffen zum Nachdenken zu bringen: „Du hast mir doch selbst einmal gesagt, dass alles in Gottes Hand steht. Gilt das nicht auch für den Zeitpunkt deines Todes?!“ Die Frau verdreht ihre Augen, versucht erneut dem Bengel ihre Situation zu schildern, und bringt es auf den Punkt: „Das Liegen im Bett ist nicht nur langweilig, sondern auch sinnlos, eine Quälerei!“  Doch der Junge reagiert jetzt mit seinem Herzen: „Für mich bleibst du wertvoll. Ich brauche dich. Und du kannst doch auch im Bett für mich beten?!“ Und da geschieht ein kleines Wunder: Ein Engelslächeln erscheint auf dem Gesicht der alten Frau.

Und der Engel, der ohne Worte spricht, schmunzelt ein wenig und reibt sich die Augen.

Besuch im Krankenhaus

Der zweite Besuch führt in ein  Krankenhaus, wo Besuchsregeln und Kontrollen vor allem Risikogruppen dienen und die „AHA Formel“ besonders wichtig ist: Abstand wahren, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen. In diesem Krankenhaus wird ein Onkel des Jungen behandelt, der plötzlich an Krebs erkrankt ist. Nach der freundlichen Begrüßung macht der Onkel, der einen eigenen Kopf hat, und in dem es innerlich schon lange brodelt, aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er braucht wohl ein Ventil. Und in dem Jungen findet er ein offenes Ohr: Er verstehe Gott und die Welt nicht mehr, schimpft der schwer kranke Mann. „Das ist doch ungerecht, dass diese Geißel ausgerechnet mich trifft, wo ich doch keiner Menschenseele etwas getan habe“, klagt er mit feurigen Augen. Und ausgerechnet jetzt, wo er ein zufriedenes und glückliches Leben führen könnte, werde er aus dem Berufsleben gerissen, von Hundert auf Null.

Der pfiffige Junge ist mit seinem Latein am Ende. Ohne es jedoch zu wissen, hilft er seinem Onkel, indem er ihm einfach zuhört. Und weil sein Onkel deshalb seine Wut zulassen kann, um sie zu bändigen; seinen Zorn herauslassen kann, um ihn zu zähmen. Dann schweigen beide, getroffen und betroffen, aber auch mitfühlend und mitdenkend – eine Minute, mehrere Minuten. Da ergreift der Junge, der Tränen in seine Augen bekommen  hat, plötzlich die Hand seines Onkels, hält sie, mal zärtlicher, mal kräftiger, eine Minute, mehrere Minuten. Der Onkel, etwas irritiert und irgendwie beeindruckt, stammelt nur „Danke“. Und da geschieht wieder ein kleines Wunder: Eine Träne läuft über das Gesicht des Onkels als gebe es doch einen Funken Hoffnung und einen versteckten Sinn.

Und dem Engel, der ohne Worte spricht, fällt es wie Schuppen von den Augen, welche Bedeutung gemeinsames und empathisches Leben hat.

Besuch in einer Wohnung

Die dritte Station ist eine Wohnung, in der eine alleinstehende Person lebt. Die freut sich über den Besuch des kleinen Naseweises, den sie schon lange kennt und mag, obwohl sie in ständiger Angst vor Ansteckung und Erkrankung lebt. Und außerhalb ihrer vier Wände überall aggressive Flöhe und destruktive Feinde husten hört. Vorsicht und Achtsamkeit, so belehrt sie den Jungen, seien die Mütter der Porzellankiste – auch unter freiem Himmel, wo sie selbst schnell vor einer drohender Gefahrenkulisse abtaucht oder im Nu lieber große Bögen um einzelne Menschen macht. Eigentlich habe sie es ja als Alleinstehende in ihrer Wohnung gut, „weil keiner da ist, der mir was tut. Auch kein Virus“, meint sie in Anlehnung an ein Wort von Wilhelm Busch.

Im Laufe des Gespräches öffnen sich jedoch auch bei ihr die Schleusen ihres Herzens, das mit innerer Leere und gähnender Langeweile, also Einsamkeit im Alleinsein sowie wüsten Phantasien und diffusen Ängsten gefüllt ist. Es gebe Lichtblicke, beruhigt sie sich selbst ein wenig, wie Telefongespräche, Briefe, E-Mails oder Fernsehsendungen. Aber alle Kommunikationsmittel könnten einen anwesenden Menschen, dem sie vertrauen könne, nicht wirklich ersetzen. Geduldig hört der Junge zu, versucht sie zu verstehen, ohne gleich einen Kommentar abzugeben, obwohl ein solcher ihm auf den Nägeln brennt.

Kann er die Frau überhaupt  trösten? Vielleicht mit dem Hinweis, was einer alleinstehenden Person vielleicht alles erspart bleibt, was es nämlich in Beziehungen und Familien besonders in Stress- und Krisenzeiten durchaus versteckt oder offen geben kann: Die Erfahrung von hautnahem Neid, grenzenlosen Gehässigkeiten, verlogenen Schönmalereien, durchtriebenen Maskeraden, aber auch von Gewalt in verschiedensten Formen? Und eröffnen sich nicht auch Chancen im Alleinsein ohne Einsamkeit, um persönlich zu wachsen und zu reifen, weil man sich ganz auf sich konzentrieren kann, ohne jemanden fragen oder mit jemandem streiten oder Kompromisse eingehen zu müssen? Kann nicht darüber hinaus ein engmaschiges Netzwerk echter Freunde eine Einsamkeit im Alleinsein überwinden helfen?

Als die Person jedoch auch noch anfängt, Kübel von Selbstmitleid und Bitterkeit über den Jungen auszuschütten, auf alles und alle zu schimpfen, weil sie häufig wie Luft behandelt werde, nicht begrüßt und gegrüßt, nicht erkannt und anerkannt, nicht beachtet und geachtet werde, fühlt sich der Junge genervt und irgendwie provoziert. Und stellt deshalb eine große Frage: „Bist du denn abhängig vom Applaus anderer? Magst du dich selbst nicht? Bist du nicht mehr wert als andere von dir denken?“

Und da geschieht wieder ein kleines Wunder: Die Frau scheint über diese Worte nachzudenken, dass sie wertvoll und liebenswürdig sei – unabhängig von einer Beziehung oder einer unsichtbaren öffentlichen Jury, die den Daumen mal hebt, mal senkt, je nach Zeitgeist und Geschmack.

Und der Engel, der ohne Worte spricht, atmet tief durch, und sieht die Person mit liebenden  Augen an.

Besuch in einer Familie

Dann machen sich beide wieder auf den Weg, der an einem Frauenhaus, einer Obdachlosen-einrichtung sowie einer gemeinnützigen „Tafel“ vorbeiführt. Ihr letzter Besuch führt in das Haus einer Familie, die gerade das Weihnachtsfest begeht. Gleich wird Bescherung sein. Einträchtig und friedlich sitzen  Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder und Eltern um den geschmückten Weihnachtsbaum herum. Zuvor haben sie die Gans gerecht geteilt und zugleich genussvoll und zügig verspeist. Die Mägen sind gut gefüllt. Sie müssen nur noch die allzu vertrauten Weihnachtslieder singen, brummen oder summen.

Endlich werden Geschenke verteilt, natürlich im Schweinsgalopp, um schnell so etwas wie Gewissheit einer persönlichen Wertschätzung zu haben. Manche Geschenke erscheinen wie Tauschobjekte, bei manchen ist noch das Preisschild zu sehen. Fast alle hinterlassen Verpackungsmüll, vor allem jedoch Spuren in den Gesichtern – fröhliche, neidische, besorgt-überhebliche oder scheele Blicke. Dennoch oder gerade deshalb – schließlich gibt es weniger Bussi-Bussi und noch seltener herzliche Umarmungen als im Vergleich zum letzten Jahr (ohne Corona). Dafür aber mehr erzwungene Umarmungen, noch mehr und ganz neu (wegen Corona) Ellenbogen- und Fuß-Kontakte, noch häufiger Winken und Verneigen, vor allem – wie im letzten Jahr – gemischte Blickkontakte. Eine Person erstarrt wie eine Salzsäule, eine andere verlässt das Wohnzimmer wie eine beleidigte Mettwurst, eine lacht mit dem Herzen, eine lächelt bemüht-krampfhaft mit dem Kopf, wieder eine bleibt verkopft und zugeknöpft.

Der Junge, ein kleines Genie mit ehrlicher Haut und ironischem Biss, bleibt sich als aufgeweckter Beobachter selbst treu. Er verspürt das Knistern in der aufgeladenen Atmosphäre mit den unterschiedlichsten Erwartungen, die noch nicht abgekühlten heißen alten Kamellen, die Eifersüchteleien, Minderwertigkeits- und Rachegefühle, Verschwörungsphantasien und bedrohlichen Ängste, zu kurz zu kommen oder etwas zu verpassen, sowie  die schwelenden Konflikte. Ein Funke, ein falsches Wort könnte ausreichen, um mit der Soße der Harmonie Verdrängtes an der zerbrechlichen Oberfläche explodieren zu lassen.

„Und für diese Welt ist der Retter geboren?“ fragt der Junge, der langsam an der frohen Botschaft von Weihnachten zweifelt, den Engel, der sich nicht mehr die Augen reibt. „Genau. Gerade, für solche Menschen ist Gott Mensch geworden“. „Und warum sagst du nichts“? fragt der Junge weiter. „Weil du schon gesprochen hast“, erwidert der Engel. „Und alle Menschen, die es wollen, können auf die Botschaft des göttlichen Friedens und seiner bedingungslosen Liebe hören. Und sich ändern, wieder glücklich und froh werden“.

Da geschieht ein neues Wunder: Der Junge wird wach, reibt sich die Augen und sieht das Leben in einem neuen Licht: „Christ, der Retter ist da!“ Dort, wo laut geschrien, geschwiegen oder weggehört wird. Genau für dieses heillose Leben ist Gott Mensch geworden. Auch dort, wo sichtbare und unsichtbare Engel unterwegs sind, wo dennoch geglaubt, gehofft und geliebt wird. Dort beginnt das Reich Gottes in einem Menschen.

Und manchmal können offene Ohren zugleich die Stimme eines Menschen und die eines Engel hören:

 „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Und manchmal werden Menschen durch ihr Leben zu Boten der froh- und neumachenden Botschaft.

Burkhard Budde

Veröffentlicht auch im Wolfenbütteler Schaufenster am 20.12.2020