Moment mal
Demo für die Freiheit
Von Burkhard Budde
Auf ein Wort
Lernorte der Demokratie II
Demonstration für die Freiheit
Kann die Schule ein Lernort der Demokratie sein? Ein Mann erinnert sich: Als 15jähriger suchte er einen politischen Kompass. Sollte die Demokratisierung der Schule wichtig sein? Um 1968 erlebte er autoritäre Lehrer, die gerne die Schüler an die Kandare nahmen, strikten Gehorsam erwarteten und schon mal den Rohrstock sprechen ließen. Aber auch „demokratische“ Pädagogen hatte er kennengelernt, die Schülern Raum gaben, sich eine eigene Meinung zu bilden und sie angstfrei und argumentativ zu vertreten, auch wenn sie unbequem war. In seiner Erinnerung gab es noch einen dritten Typ von Lehrer, der nur ein demokratisches Mäntelchen trug, indem er sich verbal für Gleichbehandlung einsetzte, in Wirklichkeit jedoch seine Vorurteile gegenüber einigen Schülern pflegte, die zum Beispiel aus groß- oder kleinbürgerlichen Verhältnissen kamen.
Als er Klassensprecher geworden war, versuchte er, Sprecher aller Kameraden zu sein und auch den „Sprachlosen“ eine Stimme zu geben. Das „Wir-Gefühl“ sollte durch Unternehmungen wie Tischtennisturniere und Partys gestärkt werden.
Eines Tages gab es ein historisches Ereignis – für ihn ein Schlüsselerlebnis, das ihm die Augen für die gesellschaftliche Dimension der Demokratisierung der Schule öffnete.
Truppen des Warschauer Paktes waren in der Nacht zum 21. August 1968 gewaltsam in die Tschechoslowakei eingedrungen, um das kleine Pflänzchen des Prager Frühlings, des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, zu zerstören. Sollte die Schülerschaft dagegen protestieren?
Die Mehrheit der Klassensprecher – auch er selbst – war dafür. Allerdings anders als er es bei der Großdemonstration in Berlin erlebt hatte – gewaltfrei und friedlich, mehr konstruktiv und mit Dialogbereitschaft.
In Bünde in Westfalen, wo sich die Schule befand, gab es – bis 1990 – eine „Sowjetische Militärmission“, ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg. Die vier Besatzungsmächte hatten nach dem Krieg sechs Aufklärungs- und Beobachtungsorte vereinbart, drei westliche in Potsdam und drei sowjetische in den westlichen Besatzungszonen. Für die Bevölkerung in Bünde war die Mission ein geheimnisvoller Ort, da die russischen Offiziere in den Häusern des „Kleinen Kremls“, die in der Nachbarschaft zu einer britischen Offizierssiedlung lag, wohl jenseits der Öffentlichkeit ein Eigenleben mit Spionageaktivitäten führte.
Im August 1968 machten sich etwa 300 freiheitsliebende Schüler mit Sprechchören wie „Russen raus aus Prag“ und Transparenten mit Aufschriften wie „Freiheit für die CSSR“ auf den Weg durch die Innenstand zur Militärmission. Wir wollten eine Petition übergeben; doch das Eingangstor blieb verschlossen; die Gardinen der Fenster der Häuser auf dem mit Maschendrahtzaun geschütztem Gelände zugezogen. Auch ein „sit-in“ brachte keinen Erfolg. Immerhin hatten wir ein mutiges und selbstbewusstes Zeichen gesetzt – angesichts des damaligen Zeitgeistes nicht selbstverständlich. Wir Schüler aus einer Kleinstadt jedoch, die wir keine rebellischen Straßenkämpfer oder selbstermächtigten Weltverbesserer sein wollten, waren uns einig: Gewaltfreie Demonstrationen für die Menschenwürde und die Menschenrechte sowie die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit eines Landes waren prägende und bewegende Lernorte, die auch im öffentlichen und politischen Bewusstsein Kreise ziehen können. (Fortsetzung folgt)
Burkhard Budde