Moment mal

Lernorte Demokratie I

Geburtsstunde eines Demokraten

Von Burkhard Budde

Auf ein Wort

Lernorte Demokratie I 

Gibt es Lernorte der Demokratie? Die Demokratie sowohl als Staatsform als auch als Lebensform fällt nicht vom Himmel. „Volksherrschaft“ und „Beteiligungsherrschaft“ können auch nicht einfach herbeigezaubert oder angeordnet werden. Die politische Willensbildung aller und die individuelle Freiheit in Verantwortung im Rahmen der Gleichheit vor dem Recht und dem Gesetz brauchen Lern- und Übungsorte.

Ein Mann erinnert sich an seinen politischen Werdegang: Mit 15 Jahren hatte er ein „demokratisches Schlüsselerlebnis“. Als er am Deutschen Turnfest 1968 in West-Berlin teilnahm, war als behütet aufgewachsener Jugendlicher einer Kleinstadt beeindruckt von der Freiheit und Vielfalt einer pulsierenden Großstadt, über die Vielzahl der Sportler – etwa 68 000 – und ihren Leistungen in den unterschiedlichen Wettkämpfen sowie der Abschlussfeier im Berliner Olympiastadion, aber auch sehr betroffen von der menschenverachtenden „Grenzmauer“, die eine Schneise durch die gesamte Innenstadt zog.

Am Rande des Turnfestes erlebte er eine Großstadtdemonstration auf dem Kurfürstendamm, die den unheimlichen Rausch eines fanatisierten Geistes verbreitete. Und ihm Angst machte. Demonstranten, die zu Ketten untergehakt waren, bewegten sich im Wechselschritt, Staccato, dann im Laufschritt. In Wellen stürmten sie nach vorne. Vom Ruf „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“ hatte er schon in der Lokalzeitung in seiner Heimat gelesen. Aber jetzt hörte er auch die Rufe „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ und „Wir-sind-eine-kleine-radikale-Minderheit“ in anschwellenden Sprechgesängen, sah überall rote Fahnen, die langhaarige Bart- und Brillenträger schwenkten sowie Studenten mit politischen Transparenten, die den Vietnamkrieg und die USA scharf kritisierten. Als Steine flogen, war er in Deckung gegangen. Und er war froh, als er wieder die Turnhalle erreicht hatte, wo er und seine Kameraden aus der Kleinstadt in Schlafsäcken übernachteten.

Das Erlebnis der Großdemonstration musste er erst verarbeiten: Kann eine Straßendemokratie mit Aggressions- und Drohpotential sowie Gewaltexzessen ein Zukunftsmodell einer liberalen Demokratie sein, von der er träumte? Sind Geschrei und Gebrüll Alternativen zum argumentativen und angstfreien Meinungskampf, den er sich wünschte? Ist eine Parlamentarische Demokratie – von der er im Unterricht gehört hatte – mit Menschenrechten, Schutz von Minderheiten und Gewaltenteilung sowie geordneten Verfahren nicht einer Straßendemokratie mit intoleranten Absolutheitsansprüchen und Fäusten vorzuziehen? Hat Freiheit nicht Grenzen, wenn Intoleranz wütet und Freiheit missbraucht wird sowie die Freiheit Andersdenkender ignoriert?

Dieses „Großerlebnis“ wurde für ihn zur Geburtsstunde, noch mehr für seine politische Bildung zu tun. Zurückgekehrt in seine Heimat, las er die Tageszeitung noch aufmerksamer als zuvor. Er versuchte, sich aus verschiedenen seriösen Quellen eine eigene Meinung zu bilden: Taten die Demonstranten der Führungsmacht Amerika – bei aller berechtigten Kritik – nicht doch Unrecht? Konnte es perspektivisch richtig sein, die Zerschlagung der Nato als einem Verteidigungsbündnis und einer Wertegemeinschaft zu fordern? War die pauschale Polemik gegen den Springer-Konzern berechtigt?

Und er las politische Bücher, zum Beispiel das Buch von Karl Potter „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ und diskutierte in seiner Familie und mit Klassenkameraden über politische Themen, auch kontrovers und heftig, aber stets respektvoll und ohne Gewalt. Er lernte, sich für die Meinungsfreiheit seines Nächsten einzusetzen, auch wenn er ihn nicht überzeugen konnte – erwartete jedoch auch von ihm die gleiche Haltung. Vor allem jedoch lernte er zuzuhören, sich argumentativ auszutauschen, Unterschiede auszuhalten und selbst dazuzulernen. Gelebte Demokratie bereitete ihm immer häufiger Freude; sie wurde für ihn zu einem faszinierenden Lern- und Lebensort. (Fortsetzung folgt)

Burkhard Budde