Moment mal

Blicke

Von Burkhard Budde

Moment mal

Blick nach vorn

Manche Blicke sind ein Fest für die Augen, andere eine Qual. Manche Blicke können die Seele zärtlich berühren, andere das Fenster eines belasteten Innenlebens für einen Spalt öffnen.

Ein Außerirdischer, der weder blind noch gleichgültig ist, begegnet Menschen mit unterschiedlichen Blicken.

Ein lächelnder Blick einer warmherzigen Person trifft ihn. Der Außerirdische erlebt, dass ein höfliches Lächeln eine erste Brücke zu einem Mitmenschen sein kann, um in seine Welt einzutauchen.

Kurze Zeit später begegnet dem Außerirdischen eine Primadonna mit einem überheblichen Blick. Erst blickt sie ihn von oben nach unten an, dann behandelt sie ihn, als wäre er Luft. Ob ihr ein Erste-Klasse-Bewusstsein zu Kopf gestiegen ist?

Da taucht eine graue Maus mit einem unterwürfigen Blick auf. Sie will unauffällig und sicher leben, sucht deshalb von unten nach oben den Augenkontakt zu dominanten Alphatieren, die ihr jedoch nur verächtliche Blicke zuwerfen.

Viele weitere, augenöffnende Blicke lernt der Außerirdische kennen: Den liebenden Blick, der mitfühlt, zu verstehen und zu helfen versucht. Den neugierigen Blick, der hinter den Kulissen zugleich Unschuldiges und Verschleiertes entdeckt. Den erfahrenen Blick, dass manche schwärmerische Liebe kein langes Haltbarkeitsdatum hat. Den bösen Blick, der das Gruseln lehrt und in die Isolation führt. Den stechenden Blick, der auch Furcht einflößt, vielleicht auch einen Konflikt provoziert. Den leeren Blick, der sich schnurstracks in seiner Gedanken- und Gefühlswelt verliert. Vielsagende Blicke, bei denen die Gedanken phantastische Purzelbäume schlagen. Wechselnde Blicke, mal sinnlich, mal giftig, mal spöttisch, mal scheu, mal aggressiv, mal zufrieden, mal unzufrieden.

Aber einen Blick kann der Außerirdische zunächst nur erahnen, bevor es ihm wie Schuppen von den Augen fällt: Den frommen Blick nach innen, der nicht mit Frömmelei verwechselt, auch nicht als Heuchelei missbraucht werden sollte. Dieser geistliche Blick auf die Schöpfung Gottes – „Gott sah, dass es gut war“ (1.Mos 1) –  kann im Augenblick des Gott- und Christusvertrauens wie ein erhellender Lichtblick sein, sich selbst mit neuen Augen sehen zu lernen: geschaffen und mit Würde versehen, endlich und verantwortlich. Und um vertrauensvoll im Miteinander und Füreinander nach vorne auf das offene Ganze zu blicken.

Nicht als Zaungast oder Außerirdischer, sondern als Mitbürger und Mitgestalter eines festlichen und erneuerten Lebens – mit erwartungsvollen Augen, klugem Kopf und tatkräftigen Händen.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 15. 10. 2022

in der Kolumne „Moment mal“