Moment mal

Herzensbildung

Von Burkhard Budde

Herzensbildung, nicht kaltes Wissen

Moment mal

Herzensbildung, nicht kaltes Wissen

Der Tisch, an dem die „Grande Dame“ sitzt, ist mit kostbaren Speisen und Getränken gedeckt. Doch die Frau wartet schon lange. Warum geben ihre Gäste kein Echo? Haben sie kein Interesse an der Gastgeberin?

Ein Diener leistet ihr Gesellschaft. „Mienheer“, sagt die Dame zu ihm, „wir sollten auf das Wohl jedes einzelnen Eingeladenen trinken.“ Die „Grande Dame“ zieht die Abwesenden wie Perlen auf eine Kette – erst spitz kommentierend, dann erläuternd, schließlich mit Wein beglaubigend:

„Wir trinken auf die Einsicht des Unwissenden.“ Denn wer kein Wissen habe, könne schnell zum Spielball seiner Gefühle und Vorurteile werden.

„Wir trinken auf die Einsicht des Besserwissers.“  Denn wer meine, zu viel Wissen zu haben, neige zum Hochmut und Dünkel; verkenne, dass alles Wissen Stückwerk und wandelbar sei, ständig ergänzt und erneuert werden müsse.

„Wir trinken auf die Einsicht des Wenigwissers.“ Denn wer meine, mit wenig Wissen, kaum Anstrengungen oder mit Selbstgerechtigkeiten durchs Leben segeln zu können, werde schnell im Strom der Zeiten manövrierunfähig und verliere seine Freiheit, zu Quellen neuen Wissens zu gelangen.

„Wir trinken auf alle Einsichtigen.“ Wissen – auch abrufbares Wissen und Hintergrundwissen – sei wichtig, um sich schnell orientieren zu können und nicht verführt zu werden. Aber es reiche nicht aus, um ein glückliches Leben zu führen. Immer gebe es einen Zusammenhang von Wissen und Gewissen, Einsichten und Deutungen, Werten und Haltungen, Erkenntnissen und Fähigkeiten.

„Herzensbildung“, sagt die alte „Grande Dame“ weiter, sei der Schlüssel, um alles Wissen vor sozialer Kälte zu schützen, stures Fragen nach Nützlichkeit zu überwinden und ein gedeihliches Miteinander zu ermöglichen.

Der Diener begreift: „Wissen als Voraussetzung von Bildung ist mehr als eine Delikatesse, die genussvoll konsumiert wird. Sowohl Wissen als auch Bildung brauchen die kritische Vernunft und selbstständiges Denken, um aus der wachsenden Vielfalt der Angebote sinnvoll wählen zu können.“

Und kein Mensch ist dabei sein eigener Maßstab, muss auch nicht ein Instrument anderer sein. Jeder Mensch, der zum Tisch des Lebens kommt, ist zugleich „Grande Dame“ und „Diener“ –  stets seinem Schöpfer verantwortlich, der die Gewissheit einer unverlierbaren Würde schenkt. Und den Hunger nach sinnstiftender Liebe stillt.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 11.6.2022 in der Kolumne „Moment mal“