Moment mal

Bilanz ziehen

Von Burkhard Budde

Moment mal

Zuversichtlich Bilanz ziehen 

Ein Mensch zieht Bilanz. Seine biologische Uhr tickt immer lauter. Die Spuren seines Alterns werden immer sichtbarer. Immer häufiger muss er lernen, Altes loszulassen. Immer seltener erfährt er das Gefühl, noch gebraucht zu werden.

War sein Leben wie ein schönes Buch mit beglückenden Kapiteln, in denen seine Menschlichkeit und Erfolge gefeiert wurden? In denen seine Träume von Liebe und Freundschaft wahr werden konnten? Oder existieren schmerzhafte Anhänge, sogar gefälschte Seiten – Zeiten, in denen er den Chef seines Lebens spielte, aber nur Spielball der Verhältnisse war und sich selbst neu erfinden musste? Gab es mehr Brüche als Neuanfänge, mehr verschlossene als geöffnete Türen, mehr gezinkte als offene Karten, mehr verpasste Chancen als Glücksfälle, mehr Risse und Bisse als Heilungen und Verteidigungen? Ist seine Handschrift stets erkennbar gewesen? Oder wenigstens ein roter Faden im scheinbar sinnlosen Durcheinander?

Einzelne Passagen jedoch sind faszinierend und machen zugleich nachdenklich: Eine Rose, die blüht, spricht ohne Worte, verzaubert und vergeht doch. Ein Vogel, der singt, auch in der Dunkelheit, beglückt und verstummt doch. Das Gras, das frisch gemäht ist, duftet, betört und verschwindet doch in einer Scheune. Ein Wind, der weht und den Körper streichelt, zieht doch weiter. Das Salz, das würzt und das Leben genießbar macht, wird doch eines Tages schal. Eine Eingebung, die plötzlich alarmiert, sich klug zu verhalten, und doch nicht erklärt und nachgewiesen werden kann.

War letztlich doch alles vergeblich, weil alles ein Geheimnis bleibt; alles eitel, weil alles endlich und ist und Stückwerk bleibt? Weil ein Mensch zwar mit leeren Händen das Licht der Welt erblickt, im Leben seine Hände mit Schönem und Hässlichen, Kostbarkeiten und Widrigkeiten füllt, aber mit leeren Händen die Finsternis des Todes erfährt?

Der Schöpfer des Menschen jedoch bilanziert anders: Er liest das Buch eines Menschen mit zugleich barmherzigen und gerechten Augen, nimmt Gelungenes und Unvollkommenes im Kontext der Bedingungen wahr, auch die verborgenen oder vergessenen Seiten. Gott kann vor allem zwischen den Zeilen lesen, kennt den versteckten Sinn des scheinbar Unerklärlichen und Unbeantwortbaren. Und schenkt Kraft und Mut, Altwerden und Reifen, Werden und Vergehen anzunehmen. Denn im Buch des Himmels – so Lukas 10,20 –  ist der Name des Menschen eingeschrieben. Und dieses Buch verstaubt nicht, ist vielmehr Grund zur Freude, wenn es im zuversichtlichen Vertrauen gelesen wird. Und schenkt Sinn in möglichen neuen Aufgaben.

Burkhard Budde

Veröffentlicht auch im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 25.3. 2023 in der Kolumne „Moment mal“