Moment mal

Anker der Hoffnung

Von Burkhard Budde

Auf ein Wort

Der Anker der Hoffnung 

Kann ein Anker für alle gleich wichtig sein?

Das große Boot, an dem an einer Halterung am Bug eine Ankerkette befestigt war, lag gut geschützt und sicher in einer felsigen Meeresbucht. Regelmäßig und viele Jahre lang kamen Menschen, um auf dem Boot zu arbeiten und ihre Freizeit zu verbringen. Es gab Zeiten der Anspannung, aber auch Zeiten der Entspannung. Manchmal mischte sich auch beides. Oder aus Muße wurde quälender Stress und aus Anstrengung gähnende Langeweile. Häufig bewegte die Menschen die Sehnsucht nach dem offenen Meer, das Boot wetterfest und zukunftsfest zu machen, auf den neuesten Stand zu bringen, es aus- und umzubauen. Konkrete Ziele und Pläne, Bedürfnisse und Interessen sahen jedoch sehr unterschiedlich aus.

Viele Menschen wussten, dass eine Seekarte, ein Kompass und auch ein modernes Sattelitennavigationsgerät das Wagnis einer Reise auf hoher See nicht ersetzen kann. Doch noch wichtiger erschien es ihnen, das Sagen auf dem Boot haben zu wollen, wohin die Reise gehen und wann es mit welchem Proviant losgehen sollte. Und sie riefen unüberhörbar „Ich“. Oder „Wir“, wenn sie in Gruppen oder Gesinnungsgemeinschaften organisiert waren. Im Durcheinander, das sich immer mehr zu einem gefährlichen Gegeneinander entwickelte und scheinbar nur durch ein gleichgültiges Nebeneinander zusammengehalten werden konnte, kamen einige auf die Idee, alten Ballast über Bord zu werfen, um neue Lebensräume auf dem Boot zu erschließen und gestalten zu können.

Selbsternannte Pioniere des Fortschritts waren wie geblendet und gefesselt von ihren Gewissheiten und ihrem Wissen über das Meer, das mit unendlicher Weite, unerschöpflicher Energie und unbekanntem Horizont lockte und alle neugierig machte. Sie betrachteten das Meer jedoch nur durch ihre Brille und versuchten, mit bitterernster Miene und angstmachendem Eifer die alleinige Deutungshoheit über das vielfältige Leben auf dem Boot zu kapern, Teile der Sprache und der gewachsenen Kultur, Schatten der Geschichte und liebgewordene Tradition zu säubern und zu reinigen sowie zu sieben, um sie dann über Bord zu werfen. Alle, die nicht mitmachten, wurden mürbe gemacht, sollten die Kommandobrücke oder das Deck verlassen oder einfach schweigen. Oder Andersdenkenden zogen sich „freiwillig“ genervt und frustriert in ihre Kojen zurück.

Was viele allerdings im Laufe der Zeit und bei aller Aufregung vergaßen oder einfach nicht (mehr) wissen wollten, war die zentrale Bedeutung des Ankers für das ganze Boot. Da war die Kette am Bug, aber nicht der Anker selbst zu sehen. Als sie wegen ihrer „augenscheinlichen Sinn- und Zwecklosigkeit“ entfernt werden sollte, gab es nur wenige warnende Stimmen: „In der Tiefe liegt die Wahrheit.“ „Das Unsichtbare steht in helfender Verbindung mit dem Sichtbaren“. „Wenn Stürme kommen, muss das Boot einen sicheren Halt haben.“

Aber die Aktivisten, die sich selbst als Haupt- oder Ersatzanker deuteten, hielten sich die Ohren zu, wurden lauter und brüllten: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!“

Doch all die Menschen, die an den unsichtbaren Anker der Hoffnung glaubten, ließen sich nicht in die Knie zwingen. Sie hatten die Hoffnung, dass der Anker ein Bootsleben in Würde, Freiheit und Solidarität ermögliche, dass man gemeinsam scharfe Winde aushalten und Zusammenstöße mit anderen Booten vermeiden könne. Mutig und standfest blieben sie fest verankert, gerade um beweglich sowie in einer fairen und konstruktiven Auseinandersetzung frei für bessere Lösungen sein zu können, um das Mögliche und Notwendige auf dem Boot zu tun.

Und sie schafften es, sich – mit dem Anker der Gewissheit auf dem Boot – auf das offene und bewegte Meer des Ungewissen in Zuversicht und Verantwortung zu wagen. 

Burkhard Budde