Moment mal

Geistige Oase

Von Burkhard Budde

Ein Kaiser ohne Kleider

Moment mal

Geistige Wellness-Oase 

Fesch. Ein echter Hingucker! meint eine Frau, die einen viel zu kleinen Kaiser mit einer viel zu großen Krone begutachtet. Seltsam, denkt eine andere Person. Ein Kaiser ohne Kleider? Ausgerechnet der mächtige Heinrich IV, dickbäuchig, sich schämend, der in seinem Reich im 11.Jahrhundert sichtbare Spuren hinterlassen hat?!

Insgesamt 16 Symbolfiguren des Künstlers Jochen Müller „tummeln“ sich im Bad Harzburger Jungbrunnen der Gegenwart. (Fast) alle beschäftigen sich in humorvoller und ironischer Weise mit einem Dauerthema der Menschheit, mit Unsterblichkeit und Verjüngung. Und nehmen dabei wahlweise Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung, Selbsttäuschung und Selbsterhöhung, übertriebenen Ehrgeiz und unerfüllbare Erwartungen aufs Korn.

Seit Menschengedenken träumen Menschen von ewiger Jugend. Doch noch nie hat es einen unsterblichen Menschen gegeben. Der Vorgang des individuellen Alterns lässt sich zwar verlangsamen, aber grundsätzlich verhindern lässt er sich nicht.

Dennoch muss kein Mensch seiner Jugend nachtrauern oder einem Jugendwahn frönen. Und keiner muss voller Schrecken an sein Altwerden denken oder das Alter glorifizieren. Wer in seinem Leben lernt sich anzunehmen, kann bewusst reifen, wachsen und neue Früchte finden und genießen. Als Handelnder – nicht als ständiges Opfer – wird er trotz Krisen einen besonderen “Frühling“, neue sinnstiftende Lebensmöglichkeiten, entdecken – auch gereifte Schönheit, Lebensfreude und Genuss. 

Ob in unseren Tagen große und kleine Zaren, ihr Gefolge sowie Zuschauer am Seitenrand wissen, dass sie – wie der Kaiser im Jungbrunnen – alle „nackt“ sind, wenn sie geboren werden, aber auch wenn sie sterben? Dass ihre entgrenzte Allmacht „natürlich“ begrenzt ist?

Keiner von ihnen braucht unbedingt eine Wohlfühl-Oase. Wohl aber kann jeder durch eine geistige Wellness-Oase erneuert werden: Indem sich ein Mensch durch das Wasser liebender Vernunft befreien lässt – vom Korsett der Selbstsucht und der Selbstgerechtigkeit sowie von den Fesseln des Neides und der Gewalt, um seine Verantwortung vor der Mit- und Nachwelt wahrzunehmen.

Ein besonderes Erlebnis kennt eine christliche Oase, wenn sie nicht versteckt oder nur Hingucker ist. Sie schenkt in allen Zumutungen, aller Heimatlosigkeit und Angst eine geistliche Wohltat mit sozialer und menschlicher Wirkung – durch Gott- und Chrutusvertrauen, unabhängig vom Lebensalter.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 21.5.2022

in der Kolumne „Moment mal“

 

Der Jungbrunnen in Bad Harzburg