Moment mal

Gäste

Von Burkhard Budde

Unbekannte Gäste können das Leben bereichern und reifen lassen.

Moment mal

Überraschungsgäste

Unbekannte Gäste stehen vor einer Tür und klopfen an. Eine Stimme ist zu hören: „Ja, bitte?!“

Ein erster Gast sagt: „Ich bin Gravitas.“ Und stellt sich vor: Sie sei der Ernst des Lebens. Sie habe in ihrem Leben Höhen und Tiefen erlebt. Durststrecken und Stürme hätten sie getroffen, irritiert und erschüttert. Aber in den Zeiten der Not sei sie gereift. Tiefpunkte hätten sich als Wendepunkte entpuppt. Endlichkeit und Vergänglichkeit, Menschlichkeit und Sinnerfahrungen seien ihr immer wichtiger geworden. Und sie habe ein besonderes Verantwortungsgefühl entwickelt.

Ein zweiter Gast stellt sich als Auctoritas vor. Ihr Aussehen trage die Spuren der Zeit. Aus strahlender Jugendlichkeit sei ein sichtbares Zeugnis ihrer Erfahrungen geworden, das jedoch von altersloser Schönheit rede. Vor allem sei jedoch ihr Ansehen gewachsen, weil sie seltener schlechtes Theater spiele und mehr ihre Freiheit wahrnehme, sie selbst zu sein und mit eigenen Widersprüchen zu leben – oder sie vernünftig zu überwinden. Im Alter sei sie immer unabhängiger im Denken und Handeln sowie zugleich solidarischer und fürsorglicher geworden.

Der dritte Gast mit Namen Sophia berichtet: „Manche wollen mich nicht kennenlernen“. Sie blieben Gewohnheitstiere, würden noch dickfälliger und sturer. Um- oder verlernen sei auch schwerer als neu- oder dazuzulernen. Aber wer neugierig und offen auf neue Balkone trete, könne weiter sehen und Zusammenhänge entdecken. Wer selbstkritisch und beweglich bleibe, müsse zu keiner Marionette der Bedingungen werden, sondern könne als Stehaufmännchen Widerstandskräfte entwickeln. Wer die Brille eines anderen aufsetze, könne mit den Augen des anderen besser sehen lernen – und unterschiedliche Empfindungen und Wahrnehmungen aushalten. Und wer die Weisheit liebe, wisse: Es gibt kein Glück ohne Unglück. Und keine Leidenschaft ohne Leiden.

Da ist noch ein vierter Gast, der Einlass begehrt: „Ich heiße Fides“. Das Altern sei für sie kein ständiger Abstieg vom Berg des Lebens, auch kein ständiges Tal. Sie stehe für neue Wege mit neuen Möglichkeiten und neuen Entwicklungschancen, weil sie Grund- und Gottvertrauen verkörpere. In ihrem Rucksack befinde sich die Erfahrung und zugleich Zuversicht, dass Gott als unsichtbarer Begleiter mitgehe sowie Werte wie umfassende und schöpferische Liebe, die nur Neuanfänge kenne sowie Kraft und neuen Sinn schenke. Die Liebe, die nicht Angst mache, belehre oder bestrafe, sondern teile, verzeihe und heile, ermutige weiterzugehen, suchend voranzuschreiten bis Türen geöffnet würden: Dass zum Schlüssel eines gelingenden und glücklichen Leben Ernst, Ansehen, Weisheit und Vertrauen gehören, um das Leben reifen und um neue Früchte wachsen zu lassen.

Burkhard Budde

Veröffentlicht auch  im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 12.6.2021

in der Kolumne „Moment mal“.