Auf ein Wort

Suche gute Tugend: Toleranz

Von Burkhard Budde

Auf ein Wort

Suche gute Tugend: Toleranz 

Ist die Tugend Toleranz noch alltagstauglich und lebensdienlich?

„Was bedeutet überhaupt Toleranz?“ fragt ein liebenswürdiger Igel, der bei Streitereien nicht gleich unter die Decke gehen, sondern besonnen und gelassen bleiben will.

Bei der Suche nach einer toleranten Haltung trifft der Igel im Wald auf eine Schlange, die ihm ins Ohr flüstert: „Wenn du deine Ruhe und wenig Stress haben willst, dann musst du deine Meinung verschweigen und deine Stacheln ablegen, da sie nur provozieren.“ Aber das will der Igel nicht und läuft weiter. Seine Stacheln gehören zu ihm wie die Luft zum Atmen.

Auf dem Weg durch den Wald sieht er einen farbenprächtigen Vogel auf einem Baum sitzen, der stolz und laut zwitschert: „In meinem Reich erlaube ich dir, deine Meinung zu sagen, solange du dich nach meinen Melodien bewegst.“ Aber das empfindet der Igel als beleidigend und verschwindet hinter dem nächsten Baum. Er möchte auch seine eigene Melodie anstimmen dürfen.

Da begegnet dem Igel ein Fuchs, der Klartext redet: „Deine Meinung interessiert mich nicht. Nur wenn du meiner Meinung zustimmst, wirst du überleben“. Aber sein eigenes Wissen und Gewissen auf dem Altar einer totalitären Herrschaft eines Fuchses zu opfern, widerspricht dem freiheitsliebenden Igel, der schnell das Weite sucht.

Schließlich kommen auf den Igel Wölfe im Schafsfell zugelaufen, die ihn überreden wollen, einen Mantel der Toleranz zu tragen, um andere Geschöpf leichter täuschen, ausbooten und vernichten zu können. Aber das kommt für den Igel überhaupt nicht in Frage. Er will sich selbst auf einer Wasseroberfläche erkennen können; er will kein Schaf, kein Wolf sein. Er läuft und läuft weiter.

Eines Tages erreicht er eine Lichtung, die mitten im Wald liegt. Der Igel hält inne und fragt sich: „Bin ich nur dann tolerant, wenn ich alles erdulde, ertrage, erlaube, akzeptiere? Gibt es nicht auch Grenzen der Toleranz?“ Auf dieser Lichtung lernt er einen neuen Geist kennen. Er stellt fest, dass es einen realen Traum gibt: kein Kuscheltier sein zu müssen, das zu allem Möglichen und Unmöglichen Ja und Amen sagt; kein Raubtier, das andere frisst, bevor es selbst gefressen wird; kein Gewohnheitstier, in dem viel Trägheit und feste Vorurteile wohnen; kein Faultier, das keine Lust auf Bewegung und geistigen Austausch hat; kein Anpassungskünstler, der nur am eigenen Überleben und Vorteil interessiert ist; sich nicht einigeln zu müssen, sondern selbstbewusst den Weg der Freiheit zu wagen, auch wenn er anstrengend ist.

Dass Toleranz für alle eine aktive Haltung bedeutet – die Achtung der Würde und Freiheit des Andersdenkenden; das Ertragen von unterschiedlichen Meinungen auch der Anderslebenden.

Denn Toleranz, so seine Erfahrung, bedeutet auch eine mutige Provokation – keine Akzeptanz oder Gleichgültigkeit gegenüber Intoleranz, die die Würde mit Füßen tritt oder durch Schläge unter die Gürtellinie verletzt, die Feindseligkeit und Gehässigkeit unter den Teppich zu kehren versucht oder die vor Doppelmoral und Ungerechtigkeit ängstlich die Augen verschließt.

Auf der Lichtung scheint für alle die Sonne und für alle regnet es. Und alle können ihre Verantwortung für die Lichtung wahrnehmen, auf der Koexistenz, Zusammenarbeit und Zusammenleben möglich sind. Wenn, ja wenn sich möglichst viele wie der Igel mit seinem Stachelkleid verhalten – wehrhaft und mit stacheligem Rückgrat, damit die Lichtung frei bleibt, alle die Wahrheit im fairen Wettstreit der Meinungen suchen, Meinungsverschiedenheiten aushalten sowie tragfähige, nicht faule Kompromisse finden können. Damit die Macht der Finsternis des Waldes nicht übermächtig wird und die Macht der Lichtung mit ihrer Toleranz, Freiheit und Vielfalt nicht ohnmächtig, sondern eine reale und nachhaltige Zukunft behält.

Burkhard Budde