Auf ein Wort
Höhle des Lebens
Von Burkhard Budde
Auf ein Wort
In der Höhle des Lebens
Eine Eule flog in nächtlicher Stille fast lautlos in die Dunkelheit einer Höhle. Ihre Superaugen, einzigartig unter ihresgleichen, ihre Superohren, die sogar ein visuelles Bild des Gehörten ermöglichen und ihre Superkommunikation, sich mit unterschiedlichen Tönen zu verständigen, halfen ihr dabei.
In der Höhle traf sie auf einen Spaßvogel, der mit diebischer Freude vornehmen Spießern und abgehobenen Moralpredigern, aber auch harmlosen Mitgeschöpfen den Spiegel vorhielt. Besonders gerne provozierte der Till – wie viele ihn nannten – mit spitzer Zunge gespaltene Zungen, mit zynischer Boshaftigkeit kleinliche „Korinthenkacker“ – wie Till sie nannte, wenn sie mit verdrießlicher Mimik und heruntergezogenen Mundwinkeln herumliefen. „Warum machst du das?“ fragte die Eule den Spaßvogel. Der schmunzelte vielsagend: „Ich will die Wirklichkeit durch verkehrenden Unsinn geradebiegen.“ „Aber doch nicht mit verletzendem Gequake?!“ fiel ihm die Eule ins Wort. Er solle selbst in den Spiegel blicken, empfahl die Eule dem Spaßvogel, um seine eigene Überheblichkeit wahrzunehmen.
Dann flog die Eule weiter und begegnete Sokrates, dem Urvater der Liebe zur Weisheit. Als sie ihm von Till und anderen Bengeln erzählen wollte, nahm der große Denker drei Siebe in die Hand. „Hast du dein Wissen durch diese drei Siebe gesiebt?“ Die Eule rieb sich ihre großen Augen. Dann hörte sie den Erläuterungen Sokrates zu. „Das Sieb der Wahrheit ist wichtig, weil es nur Wahrheiten im Plural gibt, unterschiedliche Wahrnehmungen. Und Unwahrheiten oder Halbwahrheiten, wenn Augenbinden, Scheuklappen oder Scheren im Kopf die Deutung der Wirklichkeit bestimmen wollen.“ Das zweite Sieb stehe für Güte. „Dienen deine Infos dem gemeinsamen Leben? Oder vermehren sie die Boshaftigkeit, Neid und Angst? Oder zerstören sie sogar als Keule der Moral oder im Gewand der Religion das Gute und Schöne, Vernunft und Verantwortung?“ Und das dritte Sieb? Das Sieb sei die „Notwendigkeit“: „Wenden die Infos die Not? Sind sie not-wendig? Oder eigentlich überflüssig?“ Dieses Sieb stärke das eigenständige Denken. Alle drei Siebe seien für ein friedliches und faires Miteinander wichtig. Und Sokrates empfahl der Eule zusätzlich selbst in den Spiegel zu schauen, weil Wahrheiten immer in Bewegung seien und jeder wissen müsse, dass er nichts wisse. Oder sie solle im Zweifel schweigen.
In der Höhle saßen noch gefesselte Gefangene, die nur auf die innere Wand der Höhle starrten und felsenfest behaupteten, dass es keinen Eingang und keinen lichten Ausgang gebe, und darüber hinaus noch dachten, dass sich die Realität nur auf das für sie Sichtbare abspiele und dass sie frei wären – wie mächtige Halbgötter des Wissens und Gewissens. Die Eule wusste nicht, wie sie die Gefesselten von ihrer Wahrnehmung hätte befreien können, um sie zur Erkenntnis neuer Wahrheiten im Lichte neuer Zusammenhänge einzuladen. Selbst Sokrates war mit seinem Latein am Ende.
Und sogar die in der Nähe des Eingangs der Höhle Sitzenden, die – wie Sokrates – regelmäßig die Höhle verließen, wurden von den Gefangenen, die ihre Höhlen- und Lebensanschauung auf keinen Fall hinterfragen oder ändern wollten, ignoriert: obwohl ein Kant allen Höhlenbewohnern gleiche Würde und Rechte zubilligte; ein Goethe vom gelebten Wissen sprach; ein Lessing sich für Toleranz und Humanität einsetzte.
Nachdenklich und irritiert verließ die Eule die Höhle und sah drei Personen aus dem Morgenland, die einem Stern folgten, weil sie den „neu geborenen König der Juden“ suchten. „Welche Bedeutung hat dieser König?“ fragte die Eule sie neugierig. „Er ist ein göttlicher Spiegel, in dem der Schöpfer des Himmels und der Erde aller Welt sein wahres Gesicht zeigt“. Die drei meinten das göttliche Licht der Liebe, der Wahrheit und der Freiheit, das durch die Geburt Jesu in aller Dunkelheit der Gottvergessenheit und Gleichgültigkeit erschienen sei.
Im Kopf der Eule entstand ein Bild des Gehörten. Und sie flog zurück in die Höhle, um allen die frohe Botschaft zuzurufen: „Christus der Retter ist da!“ Denn die Eule verspürte liebende Augen, die mitten im Unfrieden umfassenden Frieden, ein brennendes Herz in neuer Freiheit und einen kühlen Kopf in neuer Sicherheit schenkten. Um neues Leben zu entdecken.
Burkhard Budde