Moment mal
Befreiung von Fesseln
Von Burkhard Budde
Auf ein Wort
Befreiung von Fesseln
Kennen Sie einen Ideologen? Rückfrage: Wer ist ein Ideologe?
Ein „weltfremder Theoretiker“, wie ein Wörterbuch meint, der einen Nagel vor allem schief, gar nicht oder nur verletzt in die Wand bekommt? Ein fanatischer Schwärmer, der seine „kranke“ Mitwelt in eine „heile“ Sonderwelt mit Heilsversprechen zwingen will?
Wohnt ein Ideologe in einem Luftschloss, in dem unrealistische Träume gepflegt werden, die soziale Albträume bewirken können? Oder lebt er abgekapselt und abgehoben in einem Elfenbeinturm, wo es nur eine Wirklichkeit gibt, mit der allerdings die Herrschaft über die Umwelt anstrebt wird?
Überall sind Menschen mit ideologischen Brillen anzutreffen, die mit missionarischem Eifer moralisieren: Die genau wissen, wer zu den Guten und wer zu den Bösen gehört; wobei sie selbst natürlich zu den Guten zählen. Für die die ideologisch gefüllte Freiheit ihrer Community wichtiger ist als die Freiheit des Individuums, anders zu denken und sich auch selbstbestimmt weiter zu entwickeln. Die aus ihrer Weltanschauung eine Ersatzreligion gemacht haben, die Andersdenkende nicht hinterfragen, sondern huldigen sollen.
Ein Studienkamerad von mir, den ich 1973 kennenlernte, war auch ein Ideologe; aber einer, mit dem ich mich menschlich gut verstand. Beim Glas Bier in der Kneipe konnten wir uns über den unnahbaren „Herrn Professor“ amüsieren, der gerne die Insignien seiner Macht über „unwissende Studenten“ zelebrierte. Oder wir schmunzelten über den gespielt lässigen „Kumpel Professor“, der beliebt sein wollte, aber unter ihren kritischen Rückfragen litt.
Auch wissenschaftlich arbeiteten mein Studienkamerad und ich gut zusammen. Neugierig und wissenshungrig untersuchten wir z. B. alte Texte, analysierten sie mit wissenschaftlichen Methoden vom historischen Zusammenhang her, reflektierten ihre Entwicklung und fragten nach ihrer Relevanz für die heutige Zeit.
Nur „ideologisch“ taten sich zwischen uns Welten auf. Er war Mitglied der Deutschen Friedens-Union (DFU), die finanziell von der SED gefördert wurde und ihn regelmäßig zu Seminaren nach Ostberlin einlud. Leidenschaftlich nahm er Partei für den damaligen „sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern“. Die DDR sei ein deutscher „Friedensstaat“. Und die liberale Demokratie in der Bundesrepublik, die Soziale Marktwirtschaft sowie die offene Gesellschaft stellte er radikal in Frage.
Mit Argumenten konnte ich ihn nicht überzeugen. Deshalb regte ich an – wenn es wirklich auch in der DDR die von ihm behauptete Meinungsfreiheit gebe -, beim nächsten DFU-Seminar die Frage nach dem Sinn der innerdeutschen Grenze sowie nach der Reisefreiheit zu fragen. „Kein Problem!“, sagte er. Aber er ist nie wieder nach Ostberlin zur Kaderschulung eingeladen worden.
Mein Kamerad war durch diese Erfahrung geläutert. Er trat aus der DFU aus. Er hatte selbstständiges Denken kennengelernt, vor allem die Befreiung von den Fesseln einer Ideologie erlebt, die das unabhängige Denken blendet, bevormundet, einengt und unbeweglich zu machen versucht.
Für ihn öffnete sich ein Bildungsfenster: Möglich wurden eine freie Meinungsbildung, eine kritische Würdigung unterschiedlicher Quellen, zudem Selbstkritik und Selbstkorrektur, auch Herzensbildung. Denn als Christ wusste er: Stärker als eine Ideologie ist die Liebe, die persönliche Verantwortung vor Gott und dem Nächsten.
Burkhard Budde