Moment mal

Menschliches Antlitz

Von Burkhard Budde

Moment mal

Zwerg mit menschlichem Antlitz 

„Was wünscht Du Dir für das neue Jahr?“ wurde ein Zwerg gefragt, dessen Sehnsüchte geweckt worden waren: Gesundheit, viel Glück und Erfolg, Freude und Wertschätzung, eine berufliche und private Zukunft. Dann dachte er kurz nach und sagte:

Natürlich auch Frieden und Sicherheit, aber keinen Frieden ohne Gerechtigkeit und ohne Freiheit. Und er ergänzte noch: Liebe und Vernunft, aber keine Schwärmerei, Gesetzlichkeit, Herzlosigkeit oder Heuchelei.

Da tauchte ein Riese aus einem Elfenbeinturm auf, der selbst viele Wünsche für das neue Jahr und klare Vorstellungen von der Zukunft hatte, auch von der Zukunft des Zwerges. Er wollte, dass der Zwerg sich in das von ihm vorbereitete Bett legte. Er meinte es schließlich gut mit dem Zwerg und wusste auch ganz genau, was für den Zwerg gut war. Nur diskutieren wollte er darüber nicht mit dem Zwerg.

Der Zwerg wurde vom Riesen analysiert; zum Beispiel im Blick auf seine Länge, sein Geschlecht, seine Herkunft, seinen Status, seine Gruppenzugehörigkeit. Auch fragte der Riese den Zwerg nach seiner Gesinnung, um ihn als „Gleichgesinnten“ oder „Ewig Gestrigen“ etikettieren zu können. Denn der Riese wollte ihn in das passende Bett mit dem passenden Etikett legen. Und wenn es kein passendes Bett gab, sollte der Zwerg für das Bett passend gemacht werden.

Doch der Zwerg, der erst Angst vor dem Riesen im Gewand des Gutgemeinten und seinem großen moralischen Zeigefinger hatte, wollte seine Wünsche selbst bestimmen, sich sein eigenes Bett suchen, eigenständig denken und eigenverantwortlich handeln. Er wollte nach seiner Haltung und Leistung beurteilt werden und nicht nach den Vorstellungen des Riesen. Er wollte auch sprechen wie ihm der Mund gewachsen war und nicht wie es der Riese gerne gehört hätte. Er wollte einfach Mensch sein und ein Mensch mit seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit bleiben und nicht ständig analysiert, bevormundet und bearbeitet werden.

Der Zwerg hatte seine unverlierbare Würde – ein Geschenk seines Schöpfers – entdeckt. Er schöpfte täglich aus der Quelle ewigen Lebens Selbstvertrauen, Kraft und Mut sowie Hoffnung auf göttliches Wirken durch schöpferische Liebe. Der Riese mit seinen Überlegenheitsgefühlen wurde in den Augen des Zwerges „ganz klein mit Hut“. Und der Zwerg mit seinem menschlichem Antlitz zeigte „wahre Größe“: Er wünschte sich keine verkrusteten Betten und keine selbsternannten Riesen,  sondern bewegliche und kluge Köpfe, die ein Herz für ihre Mitmenschen haben. Sein größter Wunsch war jedoch Gottes Segen, der neues Leben in Würde, letzte Geborgenheit und letzten Sinn sowie verantwortungsbewusste Freiheit schenkt.

Burkhard Budde

Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 31.12.2022 in der Kolumne „Moment mal“

sowie im Wolfenbütteler Schaufenster am 1.1.2023 in der Kolumne

„Auf ein Wort“