Moment mal
In Würde teilen
Von Burkhard Budde

Martin in der Kathedrale von Palma/Mallorca
Moment mal
In Würde teilen
„Wer teilt gewinnt!“ – ist das eine „coole“ Logik? Ein Soldat, der im 4. Jahrhundert gelebt hat, folgte dieser Logik, indem er ganz spontan seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilte, der sich vor den Toren der französischen Stadt Amiens aufhielt.
Noch heute feiern viele den Martinstag am 11. November, seinem Beisetzungstag. Der Soldat und spätere Mönch und Bischof hat viele kulturelle Spuren hinterlassen und ist gleichsam zum Sozialheiligen der Nächstenliebe geworden. Und er beflügelt bis heute das kritische und selbstständige Denken.
Wer mit offenen Augen lebt, nicht hartherzig ist und vorurteilsfrei hilft, muss sich selbst nicht aufgeben, naiv oder blauäugig werden. Ohne den Besitz eines Mantels hätte Martin ihn nicht teilen können. Und Martin wollte offensichtlich auch nicht in panischer Angst oder mit schwärmerischem Übermut ohne Pferd und ohne Schwert leben, vor der Not flüchten oder kapitulieren.
Hilfsbereitschaft kann auch Wehrhaftigkeit mit Hilfe von scharfen Schwertern bedeuten, wenn z.B. ein brutaler Raubritter angreift und über Anderslebende oder unschuldige Menschen herfällt und ihre Existenz, ihre Souveränität, Freiheit und Sicherheit zerstören will.
Aber auch mitten im Alltag sind Ritter im Dienst der Würde und Vernunft gefragt, ohne selbst würdelos zu werden: Wo beispielsweise Lügen, Halbwahrheiten, Unterstellungen oder Intrigen herrschen, ist argumentativer Widerspruch und gewaltloser Widerstand angesagt – den Mund zu öffnen, ohne Öl ins Feuer der Auseinandersetzungen zu gießen; manchmal auch den Mund zu schließen, um seinen Mitmenschen nicht bloßzustellen, sondern ihm eine positive Entwicklung zu ermöglichen.
Der Ritterschlag christlicher Nächstenliebe bleibt jedoch die persönliche Verantwortung, die Christen vor Gott wahrnehmen. Martin hat keinen fremden Mantel geteilt, sondern seinen eigenen. Die Botschaft der Liebe, die in kein Schaufenster gehört und auch kein Geschäftsmodell ist, hat ihre Bewährungsprobe im Alltag. Keiner muss hoch zu Ross daherkommen oder sich auf Knien nähern. Er kann zu Fuß, auf leisen Sohlen und auf Augenhöhe im richtigen Augenblick im Rahmen seiner Möglichkeiten Leben teilen, um Hilfen zu ermöglichen. Wohl wissend, dass geteilte Solidarität keine Einbahnstraße ist, weil aus Bettlern Ritter und aus Rittern Bettler werden können. Und es sich lohnt, die vorauseilende Liebe nicht „uncool“ links liegen zu lassen.
Burkhard Budde
Veröffentlicht im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 5.11.2022 in der Kolumne „Moment mal„

Martin in der Martinskirche Spenge/ Westfalen