Moment mal
Werte im Journalismus
Von Burkhard Budde

Werte – Kompass der Fairness – Florett der Vernunft – Quelle der Kraft
Werte im Journalismus
Von Dr. Burkhard Budde
- Sind Werte eine Spaßbremse im Journalismus? Gibt es nicht andere Themen wie die Fragen nach der Struktur, dem Geld, der Macht, des Einflusses, die wichtiger und dringender sind?
Als Schüler und Student war ich freier Mitarbeiter einer Lokalredaktion in meiner Heimatstadt Bünde in Westfalen. Werte, die mich vor allem durch das Elternhaus, den Kindergarten, die Schule, den Konfirmandenunterricht, die kirchliche Jugendarbeit, aber auch durch den Freundeskreis und den Medienkonsum geprägt hatten, brachte ich mit. Alte Werte wie Toleranz und Vorurteilslosigkeit wurden in der journalistischen Praxis ganz neu erlebbar, wenn ich zum Beispiel über Veranstaltungen berichten sollte, die mir bislang unbekannt waren oder als „nicht so wichtig“ erschienen. Ich lernte beispielsweise die Faszination der Blasmusik auf Menschen kennen, die Freude anderer, die beim Züchten von Tauben und Kaninchen aufkam oder die anziehende und ausstrahlende Welt der Frömmigkeit mit vollmächtigen Predigten beim damaligen Bünder Missionsfest.
Werte wie Toleranz und Vorurteilslosigkeit können Türen zu unbekannten Lebensbereichen öffnen.
- Sind Werte mit einem schönen Abendkleid zu vergleichen, das man nur bei Festveranstaltungen trägt, das aber sonst im Kleiderschrank hängt?
Während meiner Semesterferien – ich studierte in Münster Ev. Theologie, Publizistik und Philosophie – hatte ich die Möglichkeit, ein Teilzeitvolontariat beim Herforder Kreisblatt und ein Kurzvolontariat beim Deutschlandfunk in Köln zu absolvieren. Ich erlebte keinen „Praxisschock“, aber eine Konfrontation von Werten mit der Praxis. Nach welchen Kriterien sollten beispielsweise eine Reportage oder eine Presseschau angefertigt werden? Nach der Aktualität? Nach der Bedeutsamkeit? Nach der Bekanntheit? Nach Auflagenhöhe? Nach Tendenz? Nach Sympathie? Und wieviel Zeit und Raum ist angesichts von „Sachzwängen“ für eine gründliche Recherche und „umfassende“ Berichterstattung nötig und möglich? Was kann – vor wem? – verantwortet werden? Immer häufiger verspürte ich die Subjektivität bei der Auswahl, Gewichtung, Interpretation und Gestaltung der „Stoffe“ und „Personen“, die ich zitierte bzw. die zu Wort kommen sollten.
Werte müssen im journalistischen Alltag immer wieder neu verstanden, interpretiert, priorisiert und umgesetzt werden, damit sie persönlich verantwortet werden können.
- Können Werte wie ein Korsett die journalistische Arbeit einbinden, behindern oder verhindern oder zur Moralisierung der Meinungsfreiheit sowie zur Doppelmoral führen?
Als Pressevikar bei einem kirchlichen Verband konnte ich erleben, dass es „vorgegebene Werte“ eines Arbeitgebers gibt und ein Mitarbeiter loyal zu sein hat. Ich fragte mich: Darf in einem Artikel nur mit Zustimmung des Chefredakteurs Kritik geäußert werden, selbst wenn sie gründlich recherchiert, sachlich belegbar, allgemein nachvollziehbar ist und der Wahrheitsfindung dient? Ist konstruktive Kritik, die informieren, erklären, aufklären und erneuern will, eine Majestätsbeleidigung, wenn es um Gesinnungsfreunde geht eine journalistische Selbstverständlichkeit, wenn es um Gesinnungsgegner geht? Sollte ich in Zukunft beim Anfertigen von „kritischen Berichten“ lieber die Schere im Kopf bemühen, vorauseilenden Gehorsam leisten, mich den vorgegebenen Werten des „mächtigen“ Chefredakteurs, der in Sonntagsreden gerne von „Meinungs- und Pressefreiheitfreiheit“ spricht, beugen, um mehr Erfolg oder wenigstens meine „Ruhe“ zu haben?
Werte der Kritik und der Vernunft können zu Konflikten mit einer Wertehierarchie führen, die von „Mächtigen“, von Institutionen oder Unternehmen vorgegeben ist, als Deckmantel inszeniert, aber auch als Zwangsjacke instrumentalisiert werden kann.
- Sind Werte der Freiheit und der Vielfalt der Horizont journalistischer Arbeit, der aber eine strukturelle und rechtliche Verankerung braucht?
Im Jahre 1981 habe ich an einem Volontärskurs für angehende Journalisten im Ruhrgebiet teilgenommen. Heftig wurde über ein „duales Rundfunksystem“ mit sowohl privaten als auch öffentlich-rechtlichen Anbietern diskutiert. Grundlage war der Artikel 5 „Meinungs- und Pressefreiheit“ des Grundgesetzes: „(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Konsens war, dass die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit als „eines der vornehmsten Menschenrechte“ (Bundesverfassungsgericht) grundlegend für einen freiheitlichen Staat ist. Aber sollten die „Öffentlich-Rechtlichen“ demnächst eine rechtlich institutionalisierte Konkurrenz mit den „Privaten“ bekommen? Mir wurde immer deutlicher:
Es gibt einen Meinungskerker durch Meinungs- und Deutungshoheit. Die offene Gesellschaft als liberale und pluralistische Demokratie braucht jedoch Gewaltenteilung: Judikative, Exekutive, Legislative, aber auch eine „Vierte Gewalt“ in Freiheit und Wettbewerb sowie mit einer Vielfalt freier und unabhängiger Medien. Die Meinungsfreiheit führt zu einer Vielfalt. Und durch institutionalisierte Vielfalt wird offene Meinungsfreiheit ermöglicht und gesichert.
Allerdings schließt dieses Denken Kritik an gegenwärtigen Strukturveränderungen nicht aus: Das Eigenleben sowie der Expansionsdrang der öffentlich-rechtlichen Anbieter zu Lasten der privaten Anbieter gefährdet gerade die Vielfalt. Und das Zusammenspiel beider findet auch nicht im fairen Wettbewerb statt, da das öffentlich-rechtliche System (u.a. 21 Fernsehsender, 74 Radiosender) mit 8 Milliarden Euro Gebühren finanziert wird; die „Privaten“ ihre Mittel erst erwirtschaften müssen. Auch öffentlich-rechtliche Angebote müssen Kritik vertragen können, wenn sie Vertrauen erhalten oder gewinnen wollen, aber der begründete Eindruck aufkommt, dass nicht immer Qualitätsjournalismus stattfindet, sondern Tugendwächter, Erzieher, Schiedsrichter oder Meinungsmacher auf leisen Sohlen oder auf offener Bühne unterwegs sind. Meinungsfreiheit bedeutet eben nicht Willkürfreiheit oder Moralisierung des öffentlichen Dialoges der „ÖRR-Mächtigen“ im Bündnis mit Nichtregierungsorganisationen, anderen „befreundeten“ Medien oder Parteien. Und Meinungsfreiheit ist kein Freibrief, andere Meinungen zu verschweigen, Meinungen in „gute“ und „böse“ Meinungen zu sortieren, mit ideologischen Parolen aus der Öffentlichkeit auszusortieren, die eigene Meinung als absolute Wahrheit anzubeten und sie als „Freiheit“ zu etikettieren.
Wenn immer mehr Bürger meinen, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können, wird die Schweigespirale gestärkt und die Lautesten werden immer mächtiger.
Die liberale Demokratie braucht deshalb zugleich „Libertas“ als Hüterin der Meinungsfreiheit und „Justitia“ als Hüterin des Rechts, die mit Hilfe der Leuchttürme Würde und Menschenrechte allgemeingültige und anerkannte Werte schützen und verteidigen sowie um- und durchzusetzen.
Das gilt auch im Blick auf die „Fünfte Gewalt“, für das Internet. Es bietet Möglichkeiten, die Demokratie zu demokratisieren, wenn es auf Deutungsmonopolansprüche der öffentlich- rechtlichen oder der privaten Anbieter antwortet. Und Online- Angebote der etablierten Medien können dem geänderten Nutzerverhalten vieler Bürger gerechter werden, Freiheit und Vielfalt stärken. Auch können On-Demand- Angebote mit individueller Zusammenstellung sowie digitale Inhalte eine Bereicherung sein, wenn die „User“ zugleich produzieren und konsumieren. Das Internet birgt aber auch Gefahren, wenn Medienkompetenz und Medienbildung fehlen oder nur schwach ausgebildet sind. Wenn Nutzer sich nur noch in Filterblasen und Echokammern bewegen, dann fehlt darüber hinaus der kritische und kontroverse Austausch mit anderen Meinungen, der jedoch zur eigenen Meinungsbildung notwendig ist. Dann kann der Nutzer zum Spielball von Algorithmen werden, die die Verbreitung bestimmter Inhalte steuern, von Social Bots, die die Tagesordnung beeinflussen und von Fake News, die manipulieren und instrumentalisieren wollen. Hass und Hetze, Aufrufe zur Gewalt oder Selbstjustiz, Demütigungen und Diskriminierungen überschreiten die Grenzen der Meinungsfreiheit, sind strafbare und boshafte Handlungen, die von unabhängigen Gerichten auf der Grundlage von Recht und Gesetz geahndet werden müssen.
Wenn die Schwestern „Libertas“ und „Justitia“ zusammenwirken, können demokratische Werte von Journalisten, die ein Ethos gemäßes Ermessen vertreten, leichter verwirklicht werden. Der Wert Fairness beispielsweise wird dann zur Norm „Alle sind vor dem Gesetz gleich und sollen fair behandelt werden“; die Norm zum Grundsatz „Auch die andere Seite ist zu hören“ („Audiator et altera pars“) und im Zweifelsfall „In dubio pro lex“ (Vorrang des Gesetzes), ohne dass die Menschlichkeit oder die Persönlichkeitsrechte in Spannung zum „Öffentlichen Interesse“ einfach unter die Räder geraten; der Grundsatz zur Regel „Jeder soll als Beschuldigter vor der Veröffentlichung eines Verdachts die Möglichkeit zur Stellungnahme haben“.
Eine Berichterstattung geschieht im Einklang mit den Schwestern „Libertas“ und „Justitia“ bei allen „Sachzwängen“ wie Zeitnot fair, ohne Ansehen der Person – Augenbinde von Justitia! -, unabhängig von der eigenen oder herrschenden Meinung, ausgewogen, möglichst umfassend, aber stets differenziert abwägend – Waagschale von Justitia! -, wahrhaftig, gründlich und sorgsam recherchiert sowie im anschließenden Kommentar klar – Schwert von Justitia! -, erklärend und aufklärend, nicht verklärend oder manipulierend, sondern befähigend zur eigenständigen und eigenverantwortlichen Meinungsbildung im Kontext der journalistischen Kontrollfunktion.
Der Journalist als Person der Freiheit ist die Freiheit in Person, wenn er mit seinem journalistischen Florett scheiden und unterscheiden kann, zum Beispiel Person und Sache, einen Bericht von einem Kommentar und bei Mischungen die eigene Meinung erkennbar macht. Und dabei stets selbstkritisch und offen für eigene Lernprozesse bleibt und die Würde aller beachtet und achtet.
Als Türöffner ermöglicht er unterschiedliche Perspektiven, kann andere Sichtweisen zu verstehen versuchen, sie untereinander in Beziehung setzen sowie Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Folgen erklären.
Als Raumöffner versucht er, möglichst die ganze, komplexe und komplizierte Lebenswirklichkeit abzubilden, die ständig im Fluss ist.
Als Brückenbauer wird er seine Mündigkeit und seinen eigenen Kopf nicht über Bord werfen, damit er nicht ins Schwimmen der Beliebigkeit gerät oder instrumentalisiert wird.
Ohne Werte dreht sich jeder Mensch sehr schnell im Kreis, tritt auf der Stelle, geht in die falsche Richtung, ist ein Getriebener seiner Gefühle, Weltanschauungen oder fremder Mächte.
Mit Werten jedoch hat ein Mensch – und wer bestreitet, dass auch ein Journalist ein Mensch ist?! – einen inneren und äußeren Kompass insbesondere der Fairness, der Unabhängigkeit und Wahrhaftigkeit. Mit seinem Florett der Kritik und der Vernunft ist er flexibel und resilient, kann Abstand und Nähe in der jeweiligen Situation ausbalancieren.
Um ein solches journalistisches Leben erfolgreich, sinnerfüllt und mit Freude zu meistern, braucht er eine geistig-geistliche Quelle, aus der er Selbst- und Fremdvertrauen, Kraft und Sinn, Mut und Leidenschaft schöpfen kann.
Alle Werte jedoch können die persönliche Verantwortung – das Ethos gemäße Ermessen im Sinne der Goldenen Regel Jesu „Alles nun, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.“ Mt.7,12 – nicht ersetzen. Werte können von neuen Wirklichkeiten und nicht vorhersehbaren Entwicklungen überrascht werden. Dann gilt es, das aktuell Gebotene zu erkennen, indem das von freien und unabhängigen Journalisten als das richtig Erkannte nach bestem Wissen und Gewissen geschieht.
Burkhard Budde, Bad Harzburg, 18.2.2022
Über eine Resonanz würde ich mich freuen: E-Mail burkhard-budde@t-online.de
Der Essay spiegelt auch Aussagen von Vorträgen wider, die der Autor auf einer Veranstaltung der Journalistischen Nachwuchsförderung (Jona) der Konrad-Adenauer-Stiftung, auf einer Landestagung des Niedersächsischen Evangelischen Arbeitskreises sowie auf politischen Bildungsveranstaltungen in Niedersachsen gehalten hat.
