Moment mal
Küssen?
Von Burkhard Budde

Alles hat seine Zeit – auch das Küssen
Liegt die romantische Seele auf Eis? Ist in der Corona-Zeit die leidenschaftliche Zweisamkeit aus der Öffentlichkeit verbannt worden? Ein Leser dieser Kolumne, der die Sehnsüchte vieler Menschen kennt, schickte mir den Songtext „Eins und eins, das macht zwei“ von Hildegard Knef (1925 bis 2002) zu. Hat das Lied aus dem Jahr 1963 noch eine aktuelle Bedeutung?
Der Weltstar Knef, die Grand Dame des Chansons, hat sich mit dem Titel „Für mich soll`s Rosen regnen“ (1968) unvergessen gemacht, aber wohl auch mit „Eins und eins, das macht zwei“. In diesem Lied wechseln sich melancholische und optimistische Impulse ab. Die Tonhöhe verändert sich wellenartig, wenn sie zwei Töne miteinander verbindet. Und ausgefallende Marschtöne, die überraschend folgen, erzeugen eine fröhliche Stimmung.
Worum geht es? Die erste Strophe plädiert für ein Küssen ohne „Offenbarung“, „denn denken schadet der Illusion“. Wer die Bedürfnisse nach körperlicher Nähe ständig durch die Mühle kritischer Reflexion dreht, verliert die Möglichkeit, den Augenblick unmittelbar und unwiederholbar zu erleben, ja zu genießen. Aber können und sollen Bedürfnisse den Kopf ganz aus dem Herzen vertreiben? Muss nicht freies und verantwortungsvolles Denken auch und gerade bei Herzensangelegenheiten ein Vetorecht behalten, um nicht schmerzhaft auf die Nase zu fallen?
In der zweiten Strophe wird geraten, gemeinsam ein kleines Stück vom Glück „mit ein paar Küssen“ zu suchen, um Einsamkeit zu überwinden. Ob der erotische Kuss wie ein geteiltes Stück Schokolade ist, das Glücksgefühle erzeugen und beschleunigen kann? Und zwei Seelen lustvoller verschmelzen lässt?
Dass es bei der Glückssuche des Herzens kein Erfolgsrezept und auch keine Erklärungen gibt, entweder „bleibt`s für`s Leben“ oder „nur Liebelei“, besingt die dritte Strophe. Die vierte Strophe spricht vom Scham und der Moral. Der „Mensch an sich“ sei feige, obwohl der „liebe Gott“ alles sehe und menschliche Gefühle längst entdeckt habe. Die letzte Strophe bringt die Spannungen des Küssens zwischen Lächeln und Heulen, Genuss und Vergessen auf den Punkt: „Erst kommt der erste Kuss, dann kommt der letzte Kuss, dann der Schluss“.
Doch zur wahren Lebenslust gehört wohl mehr als ein flüchtiges Glück, sondern auch heitere Besonnenheit und zeitweise Nähe durch Abstand: Denn kann es Neugierde auf das geben, was man bereits kennt? Muss das Verlangen nicht erst verhüllt sein, um später enthüllt zu werden? Und können sich nicht auch zwei Menschen ohne Mund-zu-Mund-Kontakt „küssen“, weil sie die Erfahrung des Psalm 85,11 teilen: Gottes Hilfe ist nahe, dass Friede und Gerechtigkeit einander küssen. Und einen zarten Hauch ewiger Liebe erleben, die die menschliche Vernunft küsst, weckt und weise macht. Da alles seine Zeit hat.
Burkhard Budde
Veröffentlicht auch im Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe
in der Kolumne „Moment mal“ am 11.9.2021