Moment mal
Schatz Erinnerung
Von Burkhard Budde

Das Grab von Gotthold Ephraim Lessing auf dem Magnifriedhof in Braunschweig,
wo er am 15.2. 1781 gestorben war: Erinnerung an einen großen Aufklärer.
Bleiben alle Türen verschlossen? Zwar existiert keine Drehtür, durch die ein Toter wieder ins Leben zurückkehrt. Aber die Erinnerung an einen verstorbenen Menschen kann wie ein offener Türspalt sein: Er lässt Raum für Gedanken, Gefühle und neue Entdeckungen.
An einem Grab stehen Personen, die sich an einen Verstorbenen erinnern. Keiner will seine Spuren verwischen, vernichten oder ignorieren. Der eine Grabbesucher fühlt wie ein Romantiker, der verklärt: „Er ist der Liebste und Beste gewesen.“ Ein anderer denkt wie ein Staatsanwalt, der anklagt: „Er war ungerecht und hartherzig.“ Der dritte verhält sich wie ein Dichter, der Lügengeschichten erfindet, die selbst durch ständige Wiederholungen nicht wahr werden. Der vierte hat von Historikern gelernt: Er strebt ein differenziertes Bild vom Verstorbenen an. Um ihn fair zu würdigen, ist er nicht nur an biographischen Fakten und unabhängigen Quellen interessiert, sondern auch an der Vorgeschichte seiner Lebensgeschichte, vor allem am Zusammenhang – an der Zeit, den Umständen, den Bedingungen. Und er denkt zudem über sichtbare und unsichtbare Brüche nach, über Widersprüche, Neuanfänge, Entwicklungen und Gleichzeitigkeiten. Hätte nicht stets auch alles anders gewesen sein können?
Es gibt eben nicht nur eine Deutung oder eine Erzählung. Subjekte Erinnerungsfetzen sollten deshalb nicht als Schwert eingesetzt werden, um positive Pauschalurteile oder Verdammungsurteile durchzusetzen. Verantwortungsvolle Erinnerungsarbeit öffnet vielmehr eine Schatzkammer unterschiedlicher Sichtweisen und wertvoller Detailerfahrungen. Wie Mosaiksteine können sie sich ergänzen oder nebeneinander liegen. Sie müssen sich „nur“ gegenseitig respektieren, aber immer wieder auch kritisch hinterfragen oder relativieren lassen, um der Gemeinschaft der (Über-) Lebenden (Zusammen-) Halt sowie neue Perspektiven zu geben. Manche Erinnerungen können ermutigen zu vergeben, auch zu vergessen; andere anzunehmen, was das eigene Leben erneuert und bereichert.
Ein Besucher spricht leise: „Du fehlst mir. Aber ich bin dankbar, dass ich mit dir verbunden war. Und bleibe.“ Der eigentliche Schatz im Schatzraum der Erinnerung ist die Vergewisserung, dass das Leben stets kostbar, einmalig, vergänglich und ein Geschenk ist. Und mit sinnstiftenden Erinnerungen besser weitergeht. Dass man nichts mit ins Grab nehmen kann. Dass sich aber jeder Mensch hier und jetzt auch an die offene Hand Gott erinnern kann, die ein Leben gnädig (durch-)trägt und eines Tages vollendet. Weil diese unsichtbare Hand, die Christen im Glauben ergreifen, von innen her die Tür zum ewigen Leben öffnet. Damit die Lebenden die Schätze der Erinnerungen klug und weise heben – und die Lebenden nicht vergessen.
Burkhard Budde
Veröffentlichtim Westfalen-Blatt in Ostwestfalen und Lippe am 20.3.2021 in der Rubrik „Moment mal“ sowie im Wolfenbütteler Schaufenster am 21.3.2021 in der Rubrik „Auf ein Wort“